Seehofers Zwei-Fliegen-Klappe
Die Zeit der großen „Ausländer“-Debatten, der Sarrazins, der Kopftuch-Streits und der „Asylanten-Debatten“ ist vorbei. Doch auch in diesem sehr betulichen Bundestagswahlkampf, dem die ganz großen Themen fehlen, kommt es immer wieder zu Ausreißern, die auf Bürger mit Migrationshintergrund befremdlich wirken müssen
Hach, was ist dieser Bundestagswahlkampf ruhig! Richtig schön kuschelig und thematisch ungefähr so kontrovers wie ein durchschnittlicher Volksmusikabend im Fernsehen. Das gilt auch für das ansonsten furchtbar emotional und irrational diskutierte Thema Integration. Lautstarke Kontroversen – auch hier derzeit Fehlanzeigen.
Das ist eine gute Nachricht, weil sie zeigt, dass die Zeit der großen Kämpfe – Sarrazin, Kopftuchstreit und „Asylanten“-Debatte – erst einmal vorbei ist. Nicht alles ist rosig, aber unter dem Strich gelingt Integration in Deutschland, die Bildungserfolge bessern sich, vor allem die jungen Migranten sind selbstverständlicher Teil der Gesellschaft worden.
Die wirklichen Lebensumstände sind hier offenbar schneller als die Denkprozesse in den Köpfen so mancher Leute, die sich in Internetforen oder anderswo noch immer irgendwelchen herbeiphantasierten Kulturkämpfen hingeben. Viele von ihnen haben überhaupt keinen Kontakt zu Einwanderern.
Aber es sind nicht nur Privatleute, die den letzten Schuss noch nicht gehört haben. Auch in der Politik zeigen sich noch immer die alten Denkmuster. Ein paar Symptome, verbunden mit der inbrünstigen Hoffnung auf Genesung für die Zeit nach der Bundestagswahl:
• Die Parteien: Nur vier Prozent der Bundestagskandidaten haben nach Recherchen des Mediendienstes Integration eine Einwanderergeschichte, viele davon stecken auf aussichtslosen Listenplätzen fest. Der Prognose nach sitzen im nächsten Bundestag gerade einmal drei Prozent Abgeordnete, die wissen, mit welchen Themen und Problemen sich Einwanderer auch heute noch herumschlagen. Die CSU hat demnach überhaupt keine entsprechenden Kandidaten anzubieten, obwohl der Anteil der Migranten in Bayern ja durchaus stattlich ist. Das aber ist zu wenig. Das Gerede von „politischer Partizipation“ ist bislang leider nur ein verbales Feigenblatt.
• Bundesregierung: Jaja, wir alle wollen Fachkräfte aus dem Ausland, um den Fachkräftemangel zu beheben. Das Mantra der Politik ist in der Sache richtig, und die Bundesregierung hat in den vergangenen Jahren sogar einige rechtliche Rahmenbedingungen verbessert. Nur, sie muss sie nun in die Realität umsetzen! Die sinnvolle „Blaue Karte“ der EU beispielsweise, die hochqualifizierten Ausländern einen unbürokratischen Aufenthalt verschaffen soll, wurde in Deutschland im ersten Jahr ihres Bestehens nur in rund 8900 Fällen erteilt. Nur ein Viertel davon reiste ein, der überwiegende Teil lebte bereits in Deutschland und konnte mit der Karte den Aufenthaltsstatus ändern. Summa summarum sind also nur rund 2000 bis 2500 neue Einwanderer gekommen. Ein dünnes Ergebnis für ein vollmundig angekündigtes Projekt. Es wird deutlich: Die „Blaue Karte“ ist in den Herkunftsländern schlicht und einfach zu unbekannt. Die Bundesregierung muss sie endlich offensiver und professioneller im Ausland vermarkten.
• Ätzen und Hetzen: Nicht nur in der Euro-Krise wurden schiefe Töne über „Südländer“ laut. Im Wahlkampf bedienen vor allem ein paar Unionspolitiker dumpfe Ressentiments ihrer vermeintlichen Wählergruppe. Horst Seehofer zum Beispiel mit seinem Vorschlag einer PKW-Maut nur für Ausländer. Dass eine solche Maut europarechtlich vermutlich gar nicht geht – geschenkt! Der bayerische Ministerpräsident schlägt damit sogar zwei Fliegen mit einer Klappe: zum einen fühlen sich die „Melkkühe der Nation“, die Autofahrer, bestätigt. Zum anderen auch diejenigen, die immer schon wussten, dass Europa nicht gut für sie ist.
• Innenminister Hans-Peter Friedrich ist in dieser Kategorie ein weiteres „Talent“: Die jüngst gestiegenen Asylbewerberzahlen findet er „alarmierend“, obwohl sie sich immer noch absolut gesehen auf überschaubarem Niveau befinden. Zumal viele der Asylanträge von Syrern stammen, die aus ihrem Bürgerkriegsland geflüchtet sind. Und Schweden und sogar die Schweiz – bezogen auf die Einwohnerzahl – mehr Flüchtlinge aufnehmen als Deutschland.
Weniger reden, mehr handeln – mein Wunschzettel für die kommende Legislaturperiode.
Martin Benninghoff, Jahrgang 1979, ist Journalist in Hamburg. Als Co-Autor hat er das Buch „Aufstand der Kopftuchmädchen“ geschrieben, das sich mit der Reform des Islam und der Integration in Europa beschäftigt. Er ist Autor der Opinion-Club-Kolumne „MyGration“.