Freie Hand für Assad
Der syrische Diktator hat ganz gezielt Giftgas gegen die Aufständischen im eigenen Land eingesetzt – er weiß, dass es für ihn ungefährlich ist. US-Präsident Obama hat ihm durch sein Zögern genügend Zeit gegeben, die „rote Linie“ auszutesten und aufzuweichen
Am 20. August 2012 sprach US-Präsident Barack Obama zum ersten Mal von der „roten Linie“: Diese sei überschritten, wenn das Regime des syrischen Diktators Baschar al-Assad gegen die Aufständischen im Lande Giftgas einsetzen wollte. Genau ein Jahr später, am Morgen des 21. August 2013, erschienen die ersten Videofilme mit Reihen von Leichen im Netz. Sie zeigen Opfer eines Giftgasangriffs auf von den Rebellen gehaltene Vororte von Damaskus. Bilder, von denen man vor einem Jahr noch vermuten durfte, dass sie unweigerlich zu einer Intervention des „Westens“ führen müssten: erstickte Zivilisten, darunter viele Frauen und Kinder. Menschen, die sich in Krämpfen winden. Röchelnde Kleinkinder. Die Angaben zur Zahl der Opfer schwanken zwischen 600 und 1300. Fest steht jedoch, dass es sich um den verheerendsten Giftgasangriff seit jenem Tag im März 1988 handelt, als Saddam Hussein die nordirakische Stadt Halabja mit Giftgas bombardieren ließ. Und es besteht guter Grund zu der Annahme, dass der Einsatz von Giftgas im syrischen Bürgerkrieg nicht trotz, sondern wegen Obamas „roter Linie“ geschehen ist.
Die bisherigen internationalen Reaktionen auf den Vorfall sind so vorhersagbar wie banal: Der deutsche Außenminister mahnt, der Franzose droht, in England telefoniert man mit dem amerikanischen Außenminister, der überhaupt gerade sehr viel telefoniert. Der UN-Generalsekretär ist vermutlich ehrlich erschüttert, der UN-Sicherheitsrat aber konnte sich nach dem üblichen Widerstand Chinas und Russlands nur auf eine lahme Stellungnahme einigen, die das Geschehen in Damaskus nicht einmal explizit erwähnt. Und der Erfinder der „roten Linie“? Präsident Obama will erst einmal abwarten. Was sollte er auch sonst sagen? Eine neue „rote Linie“ verkünden?
Es hat ein Jahr gedauert, die „rote Linie“ Obamas so extrem zu überdehnen, dass sie nicht einmal mehr als Witz taugt. In diesem Jahr hat es im syrischen Krieg etliche mutmaßliche Giftgasangriffe gegeben. Sie waren jeweils so klein und lokal begrenzt, dass ein zaudernder amerikanischer Präsident nach ein paar strengen Worten wieder wie unbeteiligt in die Luft gucken konnte. Die nicht überraschende Schwierigkeit, solche Angriffe unter den gegebenen Umständen offiziell nachzuweisen, hat derweil bei einer letztlich erleichterten westlichen Öffentlichkeit mit dafür gesorgt, dass der Aufstand in Syrien – den das Regime Assad planvoll in einen Bürgerkrieg verwandelt hat – mental abzulegen unter „So sind die halt da hinten“.
Assad weiß, was er tut. Er handelt in seinem machtpolitischen Bezugsrahmen durchaus rational. Sein Regime, das mit dem Rücken zur Wand steht, kämpft mit allen Mitteln ums Überleben. Er weiß inzwischen auch, dass die Politiker des Westens dem Krieg in Syrien völlig konzept- und ideenlos gegenüberstehen.
Bei der EU-Außenbeauftragten Catherine Ashton, oder dem deutschen Außenminister, die in weltpoltischen Fragen ohnehin nur bedingt wahr- und ernstgenommen werden, würde das nicht weiter auffallen. Fatalerweise trifft diese politische Inhaltslosigkeit aber auch auf den amerikanischen Präsidenten zu. Und das ist welt- wie regionalpolitisch verheerend.
An der zu erwartenden Reaktion der USA, und ganz persönlich am Chef der einzigen wirklichen Weltmacht, bemisst nicht nur im Nahen Osten jeder regionale Akteur seine Handlungen. Das gilt für die israelisch-palästinensischen Verhandlungen ebenso wie für das ägyptische Militär oder eben Assad. Wenn von amerikanischer Seite nur heiße Luft kommt, dann ist das auch eine politische Aussage, nach der man sich zu richten weiß.
Assad hat Obamas rote Linie ein Jahr lang ausgetestet. Er weiß nun, dass ihre Überschreitung keine schwerwiegenden Folgen haben wird. Die Ankunft des UN-Teams zur Überprüfung einiger – chemisch inzwischen kaum noch nachweisbarer – Giftgasvorfälle vor etlichen Monaten hat ihn nicht gehindert, keine drei Tage später und quasi unter den Augen der Inspektoren den bisher schrecklichsten Giftangriff auf sein Volk zu befehlen. Gerade die Anwesenheit der UN-Offiziellen schützt ihn nämlich zusätzlich vor einer raschen militärischen Antwort des Westens – wenn denn der Zauderer Obama sich dazu durchringen wollte.
Dass es überhaupt dazu kommt, ist sowieso unwahrscheinlich. Man wird nun eine Weile lang über den Zugang der UN-Inspektoren zu einigen Vororten verhandeln, die unter Dauerbeschuss der syrischen Armee liegen. Man wird verhandeln und diskutieren und fordern, bis sich auch hier die letzten nachweisbaren Spuren eines Kampfstoffs buchstäblich in Luft aufgelöst haben werden. Derweil hält Präsident Obama demnächst bestimmt wieder eine beeindruckende Rede. Redenhalten aber ist kein Ersatz fürs Politikmachen.
Jürgen Mustermann am 26. August 2013
"Der syrische Diktator hat ganz gezielt Giftgas gegen die Aufständischen im eigenen Land eingesetzt ":
Meinung ist ja der Existenzzweck dieses Forums, und insofern kann "unparteiische" Berichterstattung nicht erwartet werden. Dennoch sollte vielleicht fairerweise eine Vermutung auch als solche kenntlich gemacht und nicht als Tatsache dargestellt werden: noch ist allen gemeinhin als seriös eingeschätzten Medien zufolge nur sicher, daß am 21.8. ein Giftgaseinsatz erfolgte, hingegen völlig unklar, durch wen.
Man darf natürlich vermuten, dies erfolgte im Auftrag Assads - ich nehme das selbst auch an - und es dann auch so bezeichnen: "Der syrische Diktator hat *vermutlich* ganz gezielt Giftgas ...". Ob die UN-Inspektoren, die heute ja mit ihren Untersuchungen des letzten Vorfalls begannen, um dann gleich beschossen zu werden, dies letztlich noch eindeutig aufklären können, wird sich zeigen.
Ich beabsichtige sicher nichts weniger, als diesen gewissenlosen Herrscher verteidigen zu wollen; aber wer ernst genommen werden möchte, sollte bei den Fakten bleiben.
Zum eigentlichen Inhalt: Der Autor kommentiert ja bereits selbst "Die bisherigen internationalen Reaktionen auf den Vorfall sind so vorhersagbar wie banal" - so ist es: unabhängig vom Ausgang der UN-Untersuchungen kann sich vermutlich jeder halbwegs politisch Informierte ausmalen, was geschehen wird - und auch mit welchem Erfolg und welchen langfristigen Auswirkungen. Traurig, zynisch, aber wahr, solange in den westlichen Staaten weiterhin die Interessen die Macht behalten, die heute von ihren Regierungen vertreten werden.
Oliver M. Piecha am 26. August 2013
Gut, die explizite Formulierung im Header stammt nicht vom Autoren selbst, aber ich halte sie durchaus für gerechtfertigt; im Sinne eines „zweifelsfreien“ Beweises wird der Giftgasangriff vom 21. August – wie die anderen Vorfälle in den vergangenen Monaten – so schnell wohl nicht geklärt werden. Es bedarf jenseits der Frage einer schon binnen Stunden rapide abnehmenden chemischen Nachweisbarkeit solcher Kampfstoffe nur wenig Phantasie, um vorauszusagen, dass die mit Gas gefüllten Raketen weder einen Absender getragen haben, noch aus einer eindeutig identifizierbaren Produktionsquelle stammen werden. Auch der Einsatz von omniösen Heckenschützen etwa gegen die friedlichen syrischen Demonstrationen am Beginn des syrischen Aufstandes war notorisch. Oder nehmen wir die diversen Massaker, etwa das von Houla: Die „Unübersichtlichkeit“ dieses Konfliktes ist gewollt und gemacht.
Eine andere Frage ist die nach den technischen und militärischen Möglichkeiten der Akteure, und hier kann man nach allem Ermessen davon ausgehen, dass die Aufständischen schlicht nicht über das Potential verfügen, um hier als Verursacher in Betracht kommen zu können– und das klar im Gegensatz zu den vorhergehenden mutmaßlichen „kleineren“ Giftgasangriffen. Aber sicher, diese Aussage ist aufgrund einer Abschätzung getroffen und damit so anzweifelbar, wie es aber auch jede Aussage von UN-Inspektoren sein wird.
Ein weiteres Szenario könnte verschwörungstheoretisch denkbar sein: „Söldner“, der CIA oder der SAS, ja die hätten das Potential, um so einen Angriff durchzuführen, und es ist wohl kaum überraschend, dass das Regime Assads nun diese Möglichkeit ins Spiel bringt. Nur: wenn man denn von „westlicher Seite“ unbedingt intervenieren wollte, dann hätten sich längst gute Gründe gefunden. Das Gegenteil ist der Fall: Man will ja gar nicht.