Mach’s noch einmal, Cem
Im Hauptberuf ist Cem Özdemir Vorsitzender der Grünen. Doch in dieser Woche hat er sich auf ein neues Feld vorgewagt – und mal eben die russische Sprache, das Bauhandwerk und die Wirtschaftswissenschaften reformiert
Spät nachts, nach langen Stunden des Konferierens, sind normale Menschen wie Euro-Retter, Insolvenzverwalter oder Tarifverhandlungsführer in der Regel platt, hohl, leer. Sie wünschen sich allenfalls noch einen Schlummertrunk oder eine Folge Sandra Maischberger zum Wegdösen – und dann Heia.
So einer ist Cem Özdemir nicht, der Grünen-Vorsitzende. Da kann es noch so spät, die Lage noch so verfahren sein – der Mann sprüht vor Energie, dass man sich fragt, warum er das nicht im Wahlkampf gezeigt hat. In der Nacht, in der Angela Merkel und selbst CSU-Chef Horst Seehofer erstaunlich ernsthaft um die Grünen buhlten, gelang ihm ganz Großes. Özdemir und seinen Mitstreitern bot sich die historische Chance zu Schwarz-Grün – aber sie sagten Njet. Doch dann ergänzte der Grünen-Chef: Die Tür zwischen Grünen und Union sei nicht auf alle Zeit „zugenagelt mit Nägeln, die man nicht rauskriegen kann“.
Das war also so eine Art Njetja, ein Wort, das die russische Sprache reformieren dürfte. Ein Nein, das auch ein Ja sein kann, vielleicht, oder so. Vor allem aber reformiert Özdemir damit das Bauhandwerk: Man zimmert sich etwas zurecht, um es anschließend wieder einzureißen. Genial! Der Bund der Steuerzahler sieht soetwas zwar nicht gerne, aber das sind ohnehin konservative Hanseln, die immer noch glauben, hinter Geldausgeben müsse auch ein Sinn stecken. Aber die Methode „Aufzubauen, um es wieder einzureißen“ ist gut für die Konjunktur, und irgendwann wird das Prinzip Özdemir in der Wirtschaftswissenschaft auftauchen.
Özdemir hat die Wahl vergeigt, Schwarz-Grün versemmelt – dennoch will er sich in seinem Amt bestätigen lassen. Eigentlich ein Unding, zumal seine mitverantwortlichen Kollegen Claudia Roth und Jürgen Trittin ihre Ämter aufgeben. Aber ein Mann, der in einer einzigen Nacht die russische Sprache, das Bauhandwerk und die Wirtschaftswissenschaften reformiert, der muss einfach in der Politik ganz oben bleiben.
Andreas Theyssen, Autor in Berlin, hat 1998 beobachtet, wie Cem Özdemir in Bonn einen ganzen Grünen-Parteitag mitgerissen und die Stimmung gedreht hat. Er hält ihn seitdem für ein großes rhetorisches Talent. Diese Woche überraschte ihn Özdemir mit seinem Reformtalent noch einmal.