Yes, you scan. Aber wir können auch anders!
Der Lauschangriff der Amerikaner auf die Kanzlerin gilt nicht der Terrorabwehr, sondern dem strategischen Rivalen Europa. Wir Europäer sollten die Herausforderung nicht beklagen, sondern annehmen
Die Kanzlerin, bemerkte ein witziger Kommentator, empört es, von den USA behandelt zu werden wie jeder andere deutsche Bürger auch. Die Bemerkung zielt auf die Doppelmoral in Merkels Reaktion auf die NSA-Enthüllungen. Wer die flächendeckende Ausspähung unser aller privater und geschäftlicher Kommunikation tatenlos hinnimmt, klingt nicht glaubwürdig, wenn er beim eigenen Staatshandy „Ausspähen unter Freunden, das geht gar nicht!“ barmt. Die spannendere Frage ist aber, wie die USA uns Deutsche denn eigentlich behandeln, wenn offensichtlich nicht als Freunde.
Bizarr ist ja nicht nur die bisherige Nichtreaktion des deutschen Staates auf das feindselige Verhalten eines fremden Staates. Man muss, was die USA tun, leider so nennen: keinen kriegerischen, aber einen fortgesetzten feindseligen Akt. Es geht da ja beileibe nicht nur um die Rechte Einzelner. Die Totalität der Lauschattacke gilt auch der Rechtsordnung, die sie faktisch außer Kraft setzt. Bizarr ist auch das arglose Die-Welt-nicht-mehr-verstehen unserer poltischen Klasse; das geradezu kindliche Sich-ungerecht-behandelt-fühlen. Aber ja doch, die Ausspähung der NSA geht über die Erfordernisse der Terrorabwehr offenkundig weit hinaus. Selbst in den USA ist niemand so paranoid zu glauben, Frau Merkel könnte auf ihrem Handy den nächsten Terroranschlag gegen die USA vereinbaren. Als was also behandeln die Amerikaner unsere Regierungschefin und uns Deutsche, die wir in unserer überwältigenden Mehrheit ebenso wenig Terroristen sind wie Frau Merkel? Sie behandeln uns als strategischen Rivalen und potentiellen Gegner. Also etwa so wie sie Russen und Chinesen behandeln.
Was Saddam und Obama gemeinsam haben
Was aber wäre an dieser Einschätzung der USA denn erstaunlich? Die EU ist für die USA nüchtern betrachtet eben längst beides – Partner, aber eben auch Rivale und Konkurrent. Ob der Euro zerfällt oder nicht, ob die Märkte an seine Zukunft glauben oder nicht, ob Europa tiefer in den Schuldensumpf gerät oder sich aus ihm befreien kann – all das betrifft unmittelbar die USA. Nicht ihre nationale Sicherheit, sehr wohl aber ihr nationales Interesse. Auf dem Handy der deutschen Kanzlerin wird in Zeiten der Finanzkrise auch über den Wohlstand der Amerikaner mitentschieden. Während der Verhandlungen zum Freihandelsabkommen geht es um Absatzchancen der amerikanischen Industrie, ob nun um Software oder um Schweinebäuche. Mithin um Jobs in Kalifornien und im Mittleren Westen. Dieses Interesse der Amerikaner rechtfertigt selbstverständlich nicht ihr Vorgehen. Nur hat der Mangel an Rechtfertigung noch nie einen Mächtigen gehindert, zu tun, was ihm nutzt. „Weil ich es konnte“, hat Saddam Hussein auf die Frage geantwortet, warum er Iraks Kurden vergast hat. Jeder US-Präsident, auch der Scheinheilige Obama, wird sich genau dasselbe sagen, wenn er seine Geheimdienste allen gegenteiligen Beteuerungen zum Trotz auch in Zukunft anweisen wird, uns, unsere Wirtschaft und unsere Politik auszuspähen.
Eine Kanzlerin, die nicht nur die Verfassung, sondern auch ihren Amtseid ernstnimmt, muss zwei Frage stellen: Was wollen wir? Was können wir? Nein, wir sollten es den Amerikanern nicht mit gleicher Münze heimzahlen wollen, und nun auch sie ausspionieren. Aber wir sollten uns so gut wie nur irgend möglich schützen wollen. Die nun angekündigte Neuausrichtung des Bundesamts für Verfassungsschutz ist ein richtiger Anfang. Gegen technische Überwachung kann man sich auch technisch wehren. Wenn, wie nun zu lesen ist, die Botschaft der USA am Brandenburger Tor die drahtlose Kommunikation im Regierungsviertel abhört, dann muss man das mit entsprechenden Mitteln unterbinden. Wichtiger, als Störsender aufzubauen, ist indes, dass wir uns selber erkennen: Wenn die Amerikaner uns als strategischen Rivalen behandeln, dann sollten wir auch als solcher handeln, um unsere Interessen gegen sie zu verteidigen.
Wir und uns, das ist nicht Deutschland allein, sondern die EU. Die USA haben Angst vor dem, was aus dem zerstrittenen Haufen einmal werden könnte, wenn er seine derzeitige Krise überlebt, die wirtschaftlichen Ungleichgewichte abbaut und wieder wächst, seine Haushalts- und Steuerpolitik harmonisiert, eine gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik verfolgt: Die Vereinigten Staaten von Europa, die Amerikas bequeme Führungsrolle beenden würden, weil sie das in vielerlei Hinsicht attraktivere Gesellschaftsmodell bieten. Die Feindseligkeit und Ängstlichkeit, mit der die USA uns ausspähen, hält uns den Spiegel vor: Wer unerschrocken hineinblickt, kann nicht nur unsere derzeitige Schwäche darin erkennen, sondern vor allem unsere völlig zu Recht von den Amerikanern gefürchtete potentielle Stärke. Yes, we can!
Joachim Helfer, Schriftsteller in Berlin, seit Mitte der Achtziger regelmäßig in New York und 1999 Stipendiat der Villa Aurora in Los Angeles, hat an den USA stets den nüchternen Wirklichkeitssinn bewundert, der sich unter all dem Kitsch und Pathos versteckt. Er empfiehlt ihn seinen romantischen Landsleuten zur Nachahmung.
Bernd Reiter am 29. Oktober 2013
Jawoll! Wenn auch nur fast volle Zustimmung. Denn an den Vereinigten Staaten von Europa habe ich so meine Zweifel, ich denke, die werden als poltische Einheit nie funktionieren, weil es eine Zweckgemeinschaft ohne echte kollektive Identität ist. Das ist in den USA schon anders. Dennoch kann auch Europa als Zweckbündnis harte, wirtschaftiche Interessen geltend machen, gerade weil unter dem Bündnis der US-Firmen mit der Administration alle leiden.