Droht nun Weimar in Europa?
Das Bundesverfassungsgericht hat die Drei-Prozent-Hürde für die Europawahl gekippt. Kleinparteien wie NPD und Freie Wähler werden künftig auch in Europa mitreden. Was dies für die Handlungsfähigkeit des Europaparlaments bedeutet
Berliner Politiker hatten schon geahnt, was kommen würde. Doch statt zu handeln, versteckten sie sich lieber einmal wieder hinter den Karlsruher Verfassungsrichtern. Und die haben nun entschieden: Die Drei-Prozent-Hürde bei der Europawahl ist verfassungswidrig, weil sie kleine Parteien benachteiligt und gegen den Grundsatz verstößt, dass alle Wählerstimmen das gleiche Gewicht haben müssen.
Der Jubel bei kleinen Parteien wie Freie Wähler, NPD oder Piraten ist groß. Denn sie werden nun im Mai auf jeden Fall in das Europaparlament einziehen; jede Stimme, die sie erhalten, zählt ja. Doch wird das Parlament der Europäer damit nun handlungsunfähig?
Als die Väter des Grundgesetzes eine Fünf-Prozent-Hürde für Bundestagswahlen einführten, hatten sie gute Gründe dafür. In der Weimarer Republik hatte die Zersplitterung der Parteienlandschaft dafür gesorgt, dass kaum noch regierungsfähige Koalitionen zusammenfanden und Deutschland praktisch unregierbar wurde. Das sollte der jungen Bundesrepublik auf keinen Fall passieren, und die Fünf-Prozent-Hürde war ein Mittel, um dem Land Weimarer Verhältnisse zu ersparen.
Im Fall des Europaparlaments ist solch eine Hürde hingegen unnötig. Die Versammlung europäischer Abgeordneter muss keine Koalitionen bilden, um eine Regierung zu bilden oder um die EU-Kommission zu bestellen; das liegt immer noch vorwiegend in der Hand der europäischen Staats- und Regierungschefs. Karlsruhe hat also völlig zu Recht entschieden, dass derzeit keine Drei-Prozent-Hürde für den Einzug ins Europaparlament gelten darf. Und der Richterspruch muss auch nicht befürchten lassen, dass das Verfassungsgericht demnächst die Hürde für die Bundestagswahl kippt. Denn die Parlamente in Berlin und Brüssel haben vollkommen unterschiedliche Aufgaben.
Man kann aber davon ausgehen, dass das Karlsruher Urteil nicht in Stein gemeißelt ist. Denn der Einfluss des Europaparlaments ist in den vergangenen Jahren peu a peu ausgebaut worden, vor allem, um die europäische Politik demokratischer zu machen. Denn dass es dort Defizite gibt, etwa bei der Kontrolle der EU-Kommission, ist unbestreitbar. Sollte im Zuge dieser Entwicklung das Europaparlament jedoch einmal mehr Handlungsmöglichkeiten – bis hin zur Bildung einer europäischen Regierung -bekommen, dann werden Politik und Richter ernsthaft über eine Wiedereinführung der Hürde nachdenken.
Bis dahin ist es aber noch ein weiter Weg. Und wir werden uns daran gewöhnen müssen, dass die NPD ihre rechtsradikalen Parolen nun auch auf europäischer Ebene verbreiten darf. Eine Demokratie kann sich das leisten.
Andreas Theyssen, Autor in Berlin, hat die Aufwertung des Europaparlaments als Politikchef der „Financial Times Deutschland“ über Jahre verfolgt.
Karl Peter Brendel am 26. Februar 2014
Ob die Sperrklausel für Bundes- und Landtagswahlen so in Stein gemeißelt ist, glaube ich nicht. Die Verfassungsgerichte betonen in ihren Entscheidungen immer, dass die aktuelle Entwicklung berücksichtigt werden muss. Vom historischen 3-Fraktionen-Parlament hat es eine Entwicklung zu einer größeren Fraktionszhal gegeben. Trotzdem sind Mehrheitsregierungsbildungen möglich oder auch nicht, wie NRW -trotz Sperrklausel- gezeigt hat.
Andreas Theyssen am 26. Februar 2014
Lieber Herr Brendel,
eben weil sich die Zahl der im Bundestag vertretenen Parteien deutlich erhöht hat, ist eine Sperrklausel nötig, sonst säßen noch mehr drin. Das ist ja per se nichts Schlechtes, aber die Regierungsbildung würde extrem schwierig. Da muss man dann eben ein paar Unannehmlichkeiten hinnehmen wie das Verschwinden der FDP oder den Nichteinzug der AfD.
Jürgen Mustermann am 27. Februar 2014
Ich habe eine etwas radikalere Ansicht als der Autor und die bisherigen Kommentatoren: wenn schon repräsentative Demokratie (ich würde außer bei Menschen- und Minderheitenschutzrechten und verfassungsändernden Gesetzen Elemente der direkten Demokratie auf Bundesebene sehr willkommen heißen), dann bitte schön auch wirklich 1:1, also gar keine Sperrklausel - in keinem Parlament. Nur dadurch wird der "Wille des Volkes" wirklich wiedergegeben, also *repräsentiert*.
Solange es durch vernünftige Politik gelingt, die Stimmenanteile der Extremen aller Richtungen gering zu halten (bisher ja durchaus deutlich geringer als z.B. in anderen europäischen Ländern, siehe Front National etc.), stellen die "kleinen" Parteien nicht wirklich eine Gefahr für die Regierungsfähigkeit dar. Und wenn das nicht mehr der Fall wäre, würde auch eine 3- oder 5-Prozenthürde ihren Einfluß nicht verhindern.
Ich freue mich also über die Karlsruher Entscheidung - und hoffe, daß sie bald auf den Bundestag ausgeweitet wird.