Was kommt nach Piketty?
Der Erfolg eines 700-Seiten-Buchs über die Webfehler des Kapitalismus ist nur ein weiteres Indiz für die Götterdämmerung, die wir gerade erleben. Hinter den Debatten über Ungleichheit und Verteilungsgerechtigkeit wartet noch viel Dramatischeres
Stellen Sie sich vor, Sie sind zu einem Restaurantbesuch mit Geschäftsfreunden eingeladen – nichts Großes, nur ein kleines Steak, Folienkartoffel, kleiner Salat, ein, zwei Gläser Wein. Und dann fragt plötzlich einer: „Was halten Sie eigentlich von diesem Piketty-Buch?”
Hier ein paar Antwortmöglichkeiten, um das Gespräch darüber abzukürzen:
1. “Kenn’ ich nicht.” bzw. “Piketty wer?” (ehrlich, aber möglicherweise rufschädigend)
2. “Ich warte noch auf die deutsche Ausgabe.” (auch nicht viel besser)
3. “Ja, ja, so richtig neu ist das ja alles nicht. Und mit Gleichmacherei ist auch nicht viel geholfen. Und diese Idee einer globalen Vermögensteuer ist ja wohl ein schlechter Witz. Völlig illusorisch.” (geschafft!)
Mit der letzten Antwortmöglichkeit kann man sich wahrscheinlich ein Abendessen lang Ruhe verschaffen. Länger aber nicht, denn es gibt da ein Problem: Dieser französische Ökonomen-Rockstar weckt uns gerade aus einem schönen Traum auf. Und zwar nüchtern, ohne Schaum vorm Mund, faktenbasiert, schlüssig. Selbst wenn man den ganzen Hype um “Le Capital au XXIe siècle” für übertrieben hält, hat Thomas Piketty ein Buch geschrieben, dessen Kernaussage uns noch sehr lange beschäftigen wird. Sogar, wenn wir es nicht lesen.
Pikettys Botschaft ist überhaupt nicht sonderlich originell oder überraschend – sie lautet schlicht: Die Welt ist genauso ungerecht, wie wir immer gedacht haben. Wahrscheinlich sogar ungerechter. (Mit “Welt” ist hier die gemeint, die wir als kapitalistische kennen. Womit aber nicht gesagt sei, dass die bisher bekannten Alternativ-Welten irgendwie gerechter sind.)
Vordergründig geht es in Pikettys Buch um das, was schon seit einigen Jahren die Gemüter erregt: die Verteilung von Einkommen und Vermögen und um den Verdacht, den inzwischen immer mehr Menschen hegen, dass dabei Fleiß oder Fairness relativ unwichtig sind. Ein Buch also, das gut zur Zeit und zur Stimmung passt, wie Kritiker anmerken, die das 700-Seiten-Werk am liebsten als Modeartikel abtun würden. Das geht aber nicht, denn was Piketty an Daten über die langfristige Entwicklung von Vermögen, Einkommen, Verteilung und Wachstum in verschiedenen Ländern zusammengetragen hat, erschüttert eine Glaubensgewissheit unseres Wirtschaftens: dass jeder im Grunde eine Chance hat, einmal zu den Gewinnern im Kapitalismus zu gehören, wenn er sich nur genug anstrengt (und/oder spart) und auf die Signale des Marktes hört.
Es ist diese meritokratische Basis, auf der wir bisher selbst extreme Verteilungs-Ungleichheit akzeptieren und unser Leben organisieren. Und nun kommt dieser Pariser Ökonom und sagt: Das funktioniert gar nicht. (Weil – um mal kurz die nicht ganz unwichtigen Details zu streifen – die Kapitalrendite das Wirtschaftswachstum übersteigt, sich deshalb die Vermögensakkumulation und -konzentration verstärkt und der schöne Reichtum einfach überwiegend in den gleichen Sippen verbleibt. Die Folge: Wir können uns mit unserer Arbeitskraft noch so verbiegen – gegen die Macht der großen und immer größer werdenden Vermögen werden wir nicht anstinken können.)
Wenn Pikettys Daten stimmen – was bisher sehr danach aussieht -, dann ist das kein Schönheitsfehler mehr in unserem kapitalistischen Glaubenssystem (wie die Umweltzerstörung oder die eine oder andere gelegentliche Finanzkrise), dann ist die meritokratische Idee der Marktwirtschaft tot und alle Beispiele für ihre Verwirklichung sind bestenfalls von anekdotischer Relevanz. Und das ist gravierender als es die sinnfreie Debatte über eine weltweite Vermögens- oder Einkommensbesteuerung vermuten lässt. Ohne die Hoffnung, dass sich “Leistung lohnt” und zwar auch langfristig, wird der Kapitalismus zum Feudalismus. So mag ihn zwar der eine oder andere immer schon interpretiert haben – Piketty macht diesen Verdacht mit seinem Buch und einer zugehörigen Datenbank überprüfbar. Das ist jetzt schon sein großes Verdienst.
Doch hinter dieser neuerlichen Runde von Gerechtigkeitsdebatten wartet noch Dramatischeres als die Frage, wer wie viel warum vom volkswirtschaftlichen Braten bekommt. Es ist die Frage, was wohl passieren würde, wenn zu viele Menschen ihren Glauben an die Fairness der Marktwirtschaft verlieren. Wenn zu viele Menschen erkennen, dass das freiwillige Tauschgeschäft auf einem freien Markt mit freien Akteuren nur eine Fiktion ist. Und wenn das arme, abhängige Würstchen, das sich mit seinem Lohn nur mühsam über der Armutsgrenze hält, nicht mehr glaubt, dass er in Wirklichkeit Meister des eigenen Lebens ist.
Das wäre sehr unangenehm. Einige könnten auf verrückte Ideen kommen: ein bedingungsloses Grundeinkommen fordern oder die Besteuerung von Kapitalerträgen mit individuellen Steuersätzen oder eine höhere Erbschaftssteuer. Und der Restaurantbesuch würde wahrscheinlich deutlich teurer ausfallen. Weil der Tellerwäscher auf einmal mehr Geld will. Also: Besser nicht drüber reden!
Axel Reimann, Autor in Hamburg, beschreibt in seinem Buch “Rindvieh-Ökonomie” (Gütersloher Verlagshaus, 2014), was passiert, wenn wir den Glauben an die Verteilungsgerechtigkeit der Wirtschaft verlieren. Er bloggt auf www.axelreimann.com. Twitter: @Axel_Reimann
Stefan Siewert am 3. Mai 2014
Der Kapitalismus hat schon schwierigere Krisen überstanden. Ähnliche Situationen gab es im 19. Jahrhundert und die Europäischen Bürgerkriege 1914 - 1945 wie der Kalte Krieg können ideologiefrei als ein Zähmen des Kapitalismus gelesen werden.
Wie im Übergang von der Agrar- zur Industriegesellschaft deutet sich wieder ein Wandel an: Ohne Verlust an Wohlstand können infolge von Robotern und Computern Lebensmittel von einem Prozent der Bevölkerung und materielle Güter von weniger als 10 % der Bevölkerung produziert werden. Die Verlierer erhalten einen "gerechten" Lohn in der Höhe der Subsistenz und dürfen, Neofeudalismus oder Plutokratie, Dienstleistungen für Tüchtigen verrichten.
Der Trend ist da, er war auch früher da, aber so kommt es natürlich nicht. Die Gesellschaft muss sich neu kalibrieren: Was ist Wert, die Rolle des Einzelnen, wie läuft Koordination, Verteilung von Ressourcen und gesellschaftliche Anerkennung ab.
Nur: wir sind noch nicht so weit. Bürgergeld und Überflussgesellschaft sind in der Phase der Diskussion und des Versuch und Irrtums. Das Unbehagen wächst, aber es ist weder formuliert noch strukturiert, siehe die Occupy - Bewegung.
Daher der Ratschlag zum Mittagessen. "Ja, da ist eine Problem, aber wir wollen nicht übereilen. Sehr unwahrscheinlich, dass sich in den kommenden Jahren etwas tut. Zu früh sich darüber Gedanken zu machen. Auf absehbare Zeit können wir unser Steak genießen. Lass die Leute diskutieren. "
Ausführlicher hier: http://asymmetrieundgleichgewicht.blogspot.de/2014/04/kapitalismus-der-versuch-einer.html
Jürgen Mustermann am 17. Mai 2014
Zynisch, aber wohl wahr.
Bis in Deutschland oder anderen relevanten kapitalistischen Ländern die nächste Revolution ausbricht, muss aber wohl leider noch viel schlimmeres geschehen...