Lasst die Linke doch regieren!
In Thüringen dürfte mit Bodo Ramelow erstmals ein Politiker der Linkspartei Ministerpräsident werden. Die Empörung über die geplante rot-rot-grüne Koalition ist groß. Aber warum eigentlich?
Ernst Elitz, ehemaliger Intendant des Deutschlandradios, holt die ganz große Keule raus. „Wo bleibt das Gewissen?“, fragt er in der „Bild“-Zeitung. „Ein Bündnis unter Ramelows Führung fügt zusammen, was nicht zusammen gehört. Er dreht das Rad der Geschichte zurück! Es ist schlicht geschichtsvergessen.“
Elitz ist eine etwas radikalere Stimme unter all den Entrüsteten. Sie echauffieren sich darüber, dass Thüringen künftig eine rot-rot-grüne Koalition unter Führung eines Ministerpräsidenten Bodo Ramelow regieren soll. Und dass ein Politiker der Linkspartei erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik Chef eines Bundeslandes werden soll.
Man muss das nicht schön finden. Man muss nicht finden, dass die Linkspartei die richtigen Antworten auf viele politische Fragen hat. Man muss auch nicht glauben, dass diese Koalition, die im Erfurter Landtag über nur eine Stimme Mehrheit verfügt, lange existieren wird.
Aber man sollte sich alle historischen Parallelen à la Linkspartei = SED = Unrechtsregierung verkneifen. Solche Vergleiche haben mit der Realität der Gegenwart wenig zu tun.
1. Die Linkspartei ist nicht die SED. Sicherlich ist die Linke gerade in den Ost-Bundesländern immer noch ein Sammelbecken ehemaliger SEDler. Nur: Ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall haben sie in der Partei allein schon aus biologischen Gründen kaum etwas zu sagen. Den Ton geben jüngere an, die nicht zum Staatsapparat der DDR gehörten. Außerdem hat sich gerade in Thüringen die Linke von den Machenschaften des SED- und Stasi-Staates distanziert, indem sie die DDR als Unrechtsstaat bezeichnete.
2. Dass die Linke in den Bundesländern den politischen Ton angibt, ist wahrlich nichts Neues. Seit zwei Jahrzehnten regiert sie in den Ost-Bundesländern mit: In Brandenburg, in Sachsen-Anhalt, in Mecklenburg-Vorpommern, in Berlin – überall dort war sie schon an den Regierungen beteiligt. Und nirgendwo dort ist der Sozialismus ausgebrochen, nirgendwo dort feierte die Stasi-Schnüffelei fröhliche Urständ. Im Gegenteil: Die Linke gab sich überaus pragmatisch, allein schon, um ihre Regierungsfähigkeit zu demonstrieren. In Berlin gab Noch-Bürgermeister Klaus Wowereit vor Jahren der Linken sogar den Vorzug vor den Grünen; sie erschienen ihm verlässlicher, und sie enttäuschten ihn nicht.
3. Bodo Ramelow, der Linke, der in Erfurt Regierungschef werden soll, taugt nicht zum Buhmann. Innerhalb der Linken ist er ein Ultrapragmatiker, der mit seinem Realismus gelegentlich die Parteiführung in Berlin zur Verzweiflung bringt. Er ist auch keine Vertreter der alten DDR-Elite. Ramelow ist in Niedersachsen aufgewachsen, wurde im westdeutschen Gewerkschaftsmilieu sozialisiert, bevor er sich der PDS, der späteren Linkspartei, zuwandte. Man muss nicht seine politische Meinung teilen, aber ein Neo-Honecker ist er wahrlich nicht.
Wie gesagt: Man muss die Linke und auch ihre Reform-Vormänner wie Ramelow nicht mögen. Aber wenn sie heute Regierungsverantwortung übernehmen, dann ist das keine Geschichtsvergessenheit oder gar Gewissensfrage, sondern ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung einfach nur ein Stück deutsche Normalität.
Andreas Theyssen, Autor in Berlin, verfolgt die Entwicklung der Linkspartei seit 25 Jahren. Zuerst als DDR-Korrespondent, als die Partei noch SED-PDS hieß, später als politischer Redakteur unter anderem der Zeitungen „Die Woche“ und „Financial Times Deutschland“.