Ein Fest für die Trolle

Von Sebastian Grundke am 17. Juni 2015

Eigentlich hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seinem jüngsten Urteil nur eine estnische Internetseite dazu angehalten, künftig besser auf beleidigende Kommentare zu achten. Absurderweise stärkt er damit aber die Macht von destruktiven Dauerwebsurfern.

Auf Foren tauschten schon im alten Rom Bürger ihre Meinungen aus. Dort wurde nicht nur gehandelt, sich versammelt und Gericht gehalten, sondern auch über politische Themen gestritten. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat nun ein Urteil über ein zeitgenössisches Äquivalent der römischen Foren gesprochen, das große Strahlkraft besitzt.

Es betrifft die Kommentarspalten unter den Artikeln des estnischen Newsportals www.delfi.ee. Die Betreiber von Estlands größter und einflussreichster Nachrichtenwebsite sind die einzigen im Land, die Kommentare unter ihren Artikeln im Netz überhaupt erlauben. Dann tauchten zu einem regionalen Thema besonders emotionale und aggressive Kommentare auf der Seite auf. Delfi.ee entfernte sie zwar, aber nicht rechtzeitig. Das jedenfalls befand das Gericht. Eine Firma hatte geklagt. Sie war in den Kommentaren verunglimpft worden und hatte Schadensersatz von einem örtlichen Gericht zugesprochen bekommen – zu zahlen von den Betreibern der Website. Dagegen hatten diese sich auf EU-Ebene wehren wollen – leider erfolglos.

Für die europäische Medienlandschaft ist das Urteil insofern bedeutsam, weil es geeignet ist, die hiesigen Verhältnisse zu zementieren. Dabei wäre das Gegenteil nötig. Denn in großen Online-Redaktionen werden Kommentare von Usern längst gelesen, bevor sie unter den Artikeln veröffentlicht werden. Die Betreiber der Internetseiten wollen so vermeiden, das rassistische oder frauenfeindliche, rechtswidrige oder ganz allgemein dem Diskussionsklima schadende Texte über die Kommentarfunktion ihrer Websites im Internet verbreitet werden. Das ist zwar richtig, birgt aber große Probleme: Denn die Teams, die diese Kommentare moderieren, bevor sie online gehen, haben meist alle Hände voll zu tun.

Zu umstrittenen Themen, wie etwa der Situation im Nahen Osten oder auch dem Ukraine-Konflikt, melden sich täglich tausende Leser zu Wort. Regelmäßig eskalieren die Diskussionen, weil sich viele User im Schutz der Anonymität des Webs im Ton vergreifen. Oft werden ein Drittel oder sogar die Hälfte aller Kommentare gelöscht. Eine sinnvolle Moderation der Diskussion, wie sie in kleineren Internetforen üblich ist – oder auch in Talkrunden im Fernsehen – ist völlig undenkbar. Meistens können die Moderatoren im Gegenteil die Texte nur überfliegen, weil sie in Sekundenschnelle entscheiden müssen, ob ihr Inhalt legal und der Diskussion förderlich ist oder nicht. Ansonsten würde manch ein Userkommentar erst Stunden, nachdem er verfasst wurde, online gehen, eine Diskussion damit unmöglich werden. Ein Austausch mit den Lesern kommt so nicht zustande.

Und nun hat der EGMR entschieden, dass Webseitenbetreiber für die Verbreitung zweifelhafter Kommentare haften. Das wird zweierlei Konsequenzen haben: Erstens werden immer weniger Websites das Kommentieren ohne vorherige Moderation erlauben. Zweitens wird die Moderation intoleranter werden. Insgesamt wird also ein Trend bestärkt, der Zensur Tür und Tor öffnet: Denn wo Menschen sitzen, die die Texte anderer Menschen kontrollieren, werden nicht nur Kommentare gelöscht, deren Verbreitung illegal ist oder die der Debatte abträglich sind, es passieren auch Fehler. Darüber hinaus haben Redaktionen zu den verschiedensten Themen eine Hausmeinung, die sich in vielen Artikeln widerspiegelt und von der auch die Moderation der Kommentare beeinflusst ist. Das soll heißen, dass beispielsweise ein Moderator bei taz.de bei einem frauenfeindlichen Kommentar empfindlicher reagieren dürfte als einer bei der faz.net. Genau diese Tendenzen sind jedoch unangemessen in einer offenen Diskussionsrunde, in der jedes Diskussionsmitglied eine gleichberechtigte Stimme erhalten soll. Genau diese Tendenzen jedoch verstärkt das jüngste EGMR-Urteil.

Unterm Strich gewinnen dadurch die so genannten Trolle. Jene User also, die bewusst aggressive und destruktive Kommentare schreiben. Sie sind die Geißel von Online-Redaktionen, Profis im Einschätzen von Moderationsrichtlinien und im Bepöbeln. Schon jetzt sind sie für einen großen Teil der Leserkommentare im Web verantwortlich. Damit sind sie auch dafür mitverantwortlich, dass den Moderationsteams in den Redaktionen die Zeit fehlt, sich mit den ernsthaften Kommentaren näher zu befassen und die Redakteure sich selten auf einen Austausch mit Lesern einlassen. Denn Trolle vergiften das Gesprächsklima und verschrecken jene Leser mit klugen und informierten Meinungen.

Ihre Macht steigt nun. Zukünftig werden sie noch häufiger als bislang komplette Diskussionsstränge und Meinungen verhindern können, indem sie bestimmte Positionen mit ihren Kommentaren gezielt in Misskredit bringen und andere User provozieren und verschrecken. Dann wird endgültig das Gegenteil von dem zur Regel, was sich viele Journalisten von der Kommentarfunktion unter den Artikeln insgeheim wünschen: eine offene, informierte und kritische Diskussion, bei der sie am Ende selber noch etwas über das Thema lernen.

Sebastian Grundke, freier Journalist in Hamburg, hat während seines Studiums mehrere Jahre lang bei tagesschau.de gearbeitet und dort unter anderem die Kommentarforen moderiert.

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maSu am 17. Juni 2015

Nein, die Macht von Trollen steigt eben kein Stück. Da jede Webseite prinzipiell dieser Gefahr ausgesetzt ist, wird es nach einigen abschreckenden Urteilen dazu führen, dass mehr Blogs in Afrika oder so gehostet werden und die übrigen Webseiten werden die Kommentarspalten schließen.

Nicht die Trolle gewinnen, sondern die ewig gestrigen Internetausdrucker, die Zensur befürworten. Der nächste Schritt wird dann sein, Webseiten, die außerhalb der EU gehostet werden zu sperren, da diese sich über diese Urteile hinwegsetzen würden. Und wer hat dann gewonnen? Keine Trolle. Keine Menschen, die diskutieren wollen. Nein, dann hat Zensursula (und Co) gewonnen.

Sebastian Grundke am 18. Juni 2015

Hallo maSu,

schön, mal wieder von dir zu lesen. Ich denke wie geschrieben schon, dass die Macht der Trolle steigen wird. Dass, was du beschreibst, ist in meinen Augen eine weitere Konsequenz, die eventuell später eintreten wird. So weit hatte ich allerdings noch gar nicht gedacht. Deine Argumentation finde ich jedoch plausibel. Aber ich frage mich, ob dann am Ende tatsächlich die ewiggestrigen Internetausdrucker und Zensurbefürworter gewinnen - oder ob es in dem Fall nicht doch die großen Netzkonzerne wären, die aus dem Web gerne eine große Werbeplattform ohne Ecken und Kanten machen würden. Vielleicht ja auch beide genannten.

Viele Grüße und gute Nacht!

Sebastian

maSu am 19. Juni 2015

Die Konzerne könnten sich dann nett ausbreiten, denn die Blogger sind Konkurrenten oder Aufklärer, die natürlich stören.

Aber die Politik wird ganz unabhängig von großen Internetkonzernen dafür sorgen, dass das Recht auf Meinungsäußerung eingeschränkt wird. Mit dem Klarnamenzwang der in der Innenstadt nicht gilt, wird ein Klima geschaffen, in dem unerwünschte Meinungen unterdrückt und sanktioniert werden. Es wird immer mehr Rechtsunsicherheit geschaffen, sodass jeder, der Meinungsäußerungen zulässt existenzbedrohende Strafen fürchten muss.

Das alles wird jetzt schon versucht, siehe Jugendmedienschutzstaatsvertrag. Das ist also keine düstere Prognose für die nächsten 50 Jahre, die Vorschläge liegen schon lange auf dem Tisch.

Trolle sind nur das Alibi-Argument.

Sebastian Grundke am 20. Juni 2015

Hallo maSu,

dass Trolle ein Alibiargument sind denke ich nicht. Die gibt es tatsächlich und sind tatsächlich ein Problem. Ansonsten zeichnest du ein mögliches, aber sehr düsteres Bild von der Zukunft.

Es könnte auch einfach sein, dass größere Onlineredaktionen mehr Leute anstellen um sich um die Moderation der Foren zu kümmern. Das wäre doch eigentlich eine positive Konsequenz der Rechtsprechung. Lediglich kleinere Seite ohne Moderation müssten dann vorsichtiger werden - die werden aber oft auch nicht so von Kommentare überflutet und dort entzünden sich auch nicht so häufig Diskussionen über heikle und strittige Themen.

Viele Grüße,

Sebastian

Sebastian Grundke am 20. Juni 2015

PS: Pardon. In meinem vorigen Kommentar sind einige peinliche Tippfehler.

maSu am 22. Juni 2015

Moin,

Tippfehler sind egal, mache selbst genug davon - besonders wenn ich via Handy oder Tablet tippe.

-

"Ansonsten zeichnest du ein mögliches, aber sehr düsteres Bild von der Zukunft."

Das Problem ist hier:
Netzsperren und JMStV sind ein alter Hut. Auch wenn Netzsperren vom Tisch sind (scheinbar!), jene Menschen, die das toll fänden, die sind noch an der Macht. Der JMStV läuft aus und die neuen Entwürfe sind eine Frechheit bzgl. Zensur usw.

DE-Mail ist sicherheitstechnisch ein Alptraum, da die E-Mails unverschlüsselt(!) auf den Servern liegen:
Absender->Verschlüsselung->Server->Entschlüsselung->Server->Verschlüsselung->Empfänger

Wer hat Zugriff auf die Server? BND/NSA/GCHQ und wie ich die Bundestags-IT-Sicherheit so einschätze: Jeder.

Es werden bereits Strukturen erschaffen, die Zensur und Kontrollmechanismen ermöglichen und in einigen Bereichen versucht man Zensur ganz öffentlich zu etablieren (JMStV ... unbedingt mal hineingucken!). Da sollen Webseiten eine Altersfreigabe erhalten und sich an Sendezeiten halten (war in einem Entwurf des JMStV enthalten, das variiert je nach Gegenreaktionen) müssen. Eigentlich hätte jeder - aus Angst vor versehentlich zu niedrigen Einstufungen, die zu Strafen führen würden - seine Webseite nur "ab18" einstufen können und damit erst ab 22 Uhr sichtbar machen dürfen. und so weiter ... das ist einfach nur unglaublich, was da im JMStV bisher an Entwürfen vorgelegt wurde.