Sie sind doch völlig normal, Herr Bundestagspräsident
Norbert Lammert reagiert mit aufreizender Ruhe auf den Cyberangriff auf das Parlament. Dabei zeigt er, dass er ein wahrer deutscher Volksvertreter ist.
Heute Nachmittag wird wieder so eine Mail kommen. Von Ihrer Bundestagsverwaltung. An alle Bundestagsabgeordneten. Alle Computer des Parlakom-Netzwerkes, so wird es darin heißen, werden kurzzeitig abgeschaltet – „aufgrund der aktuellen Situation im Bereich der IT des Deutschen Bundestages“. Das ist die Mail, die Sie seit Wochen an jedem Freitag Nachmittag herumschicken lassen.
„Aktuelle Situation“ ist nett formuliert. Denn seit Ende Mai steht der Bundestag Kopf. Ein Cyberangriff hat das interne Computernetz weitgehend lahmgelegt. Eine Website herunterzuladen dauert eine Minute, die Plenardebatte im Livestream zu verfolgen, funktioniert selten. Vor allem aber fließen Daten ab: Emails, Kalendereinträge, Kontaktdaten, Dokumente von Abgeordneten. Der Bundestag ist Ziel einer Cyberattacke.
In Anbetracht der Lage sind Sie die Ruhe selbst, Norbert Lammert. Nach Bekanntwerden der Angriffe ließen Sie gut eine Woche verstreichen, bis Sie sich an die Abgeordneten wandten. In den Medien ist von gezieltem Ausspähen von Regierungsmitgliedern mit Abgeordnetenmandat zu lesen, davon, dass sich die Cyberhacker Passwörter und Administratorenrechte verschafft hätten, dass der Angriff nicht zu stoppen ist und die IT des Parlaments für Millionen völlig neu aufgebaut werden muss, dass hinter dem Angriff ein russischer Geheimdienst steckt. Zu all dem kommt von Ihnen, dem Bundestagspräsidenten, so gut wie – nichts.
Man kann sich darüber aufregen, so wie es etliche Abgeordnete tun. Man kann aber auch sagen: Sie sind ein wahrer deutscher Volksvertreter, Herr Lammert. Denn die Deutschen – zumindest in ihrer Mehrheit – lässt es völlig kalt, wenn es um Cyberattacken geht. Sie verstehen nicht, worum es geht. Oder es interessiert sie nicht. Oder sie finden es eher witzig, weil sie glauben, da haben es ein paar Hacker mal wieder einer gewichtigen Institution gezeigt.
Sie, Herr Lammert, sind damit auf einer Linie mit den Fehleinschätzern in diesem Land. Denn das, was seit Jahren auf unseren Computern abgeht, ist längst mehr als ein bisschen Spaß von ein paar PC-Daddlern. Denn im Netz wird ein regelrechter Krieg geführt – von Militärs.
China und Russland haben militärische Einheiten aufgestellt, die den Cyberwar führen. Nordkorea ist ähnlich weit, wie seit Sonyleaks vermutet wird. Die USA entwickelten zusammen mit Israel etwa den Angriffsvirus Stuxnet, mit dem sich Industrieanlagen lahmlegen lassen. Und US-Präsident Barack Obama verkündete vor ein paar Monaten, sein Land behalte sich vor, auf Cyberangriffe mit konventionellen militärischen Mitteln zu reagieren. Motto: Knackst du meinen Computer, bombardiere ich deine Städte.
Die Liste der digitalen Angriffe ist lang: Chinesen dringen in deutsche Regierungscomputer ein und klauen die Daten von Millionen US-Regierungsangestellten, Russen legen den französischen Sender TV5 Monde lahm oder gleich ganz Estland, das digital fortschrittlichste Land der EU.
Militärexperten vermuten, dass das, was derzeit im Netz abgeht, oft Fingerübungen von Militärs sind. Denn künftig werden militärische Angriffe nicht mehr alleine mit Bombardements eingeleitet, sondern auch mit digitalen Angriffen auf Stromnetze und die Verkehrsinfrastruktur.
Ist aber alles auch ein wenig kompliziert. Vor allem für Leute, die das Internet ohnehin für Teufelszeug oder ein Instrument der Zeitverschwendung oder für neumodisches Zeugs halten.
Politikern wird ja gerne mal Volks- oder Wählerferne vorgeworfen. Ihnen, Norbert Lammert, kann man das nicht vorhalten. Zumindest nicht in Sachen Cyberattacken.
Andreas Theyssen, Autor in Berlin, schreibt die OC-Kolumne „Mein Held der Woche“ jeden Freitag.
Zaunkoenigin am 19. Juni 2015
Ja holla, Herr Theyssen, gibt es das? Ich habe nichts gefunden dem ich widersprechen könnte oder wollte. Oh nein! Treffer, versenkt. Man könnte allenfalls noch ergänzen, dass nicht nur der Durchschnittsbürger nicht versteht was da abläuft, es verstehen auch Industrie, Banken und Wirtschaft nicht. Und die, die zumindest ein dumpfes Ahnen entwickelt haben, die haben es noch nicht in voller "Schönheit" erfasst. Es gibt - auch große - Unternehmen, die geben mehr Geld für Putzkolonnen aus, als für ihre IT-Sicherheit.
Die einen wollen es nicht verstehen weil es den Spassfaktor mindern würde und die anderen nicht, weil man im Zuge der stetig wandernden Firmenvorstände nur noch von Bilanz zu Bilanz und sowieso "nach mir die Sintflut" denkt.