Gut vergeigt, Österreich
Die beschämenden Szenen am griechisch-mazedonischen Grenzübergang Idomeni sind ein Beleg, dass in der Flüchtlingsfrage nationale Alleingänge keine Lösung sind.
Junge Männer, die mit Stangen versuchen, ein Tor aufzubrechen. Polizisten in Unterzahl, die sich nicht mehr anders zu helfen wissen, als Tränengas in die Menge zu schießen. Familien mit Kindern, die würgend und weinend versuchen, sich vor den beißenden Schwaden in Sicherheit zu bringen.
Die Szenen, die sich gerade am griechisch-mazedonischen Grenzübergang Idomeni abspielen, sind erschreckend. Gegenüber stehen sich verzweifelte Flüchtlinge, die Krieg und Terror in Syrien und im Irak mühsam entkommen sind, und die Polizei eines der ärmsten Länder Europas. Dazwischen vereinzelte griechische Beamte, die versuchen zu vermitteln, aber auf verlorenem Boden stehen. Es ist ein beschämendes Schauspiel.
Verursacht hat dieses Chaos – es lässt sich leider nicht anders sagen – Österreich. Ausgerechnet das Land, das im vergangenen Herbst in Absprache mit Budapest und Berlin dafür gesorgt hat, dass es solche Bilder nicht aus Ungarn gibt. Seine Regierung hat nun einen 180-Grad-Schwenk vollzogen, eine Allianz der Westbalkanländer organisiert und dafür gesorgt, dass die griechisch-mazedonische Grenze de facto für Flüchtlinge dicht ist. Was die Regierung des Sozialdemokraten Werner Faymann angerichtet hat, widerspricht allem, wofür die Europäische Union steht: in puncto Humanität und in puncto Solidarität.
Das Resultat sind nicht nur diese Bilder aus Idiomeni, die eines kultivierten Europas unwürdig sind. Das Resultat ist auch, dass die EU de facto Griechenland mit den Flüchtlingen alleine lässt. Haben halt Pech gehabt, die Griechen mit ihrer langen Seegrenze, die auch eine EU-Außengrenze ist. Ihr Problem. Nicht unseres.
Wie verzweifelt die Lage in Griechenland ist, kann man daran erkennen, dass sich Athens Regierungschef Alexis Tsipras in seiner Not an Angela Merkel wendet. Ausgerechnet an jene Frau, die ihn im vergangenen Jahr auf dem Höhepunkt der Schuldenkrise verdammt gezwiebelt hat. Griechenlands Premier hat erkannt, dass Merkel in der Flüchtlingskrise die letzte Regierungschefin ist, die nicht nur national, sondern vor allem europäisch denkt.
Was muss eigentlich noch passieren, damit die Welt begreift, worum es geht? Es geht nicht um wilde Tiere, die es mit Zäunen oder gar Schusswaffen fernzuhalten gilt. Es geht um Menschen, um Männer, Frauen und Kinder, um Junge und Alte, die Krieg und Terror entfliehen wollen – so, wie es jeder von uns täte, sollten bei uns einmal ähnliche Verhältnisse wie in Syrien herrschen. (Und jene, die alleine aus wirtschaftlichen Gründen nach Europa wollen, werden natürlich im Asylverfahren ausgesiebt und zurückgeschickt.)
Müssen in Idomeni erst Flüchtlinge sterben? Müssen erst einige von ihnen am Tränengas ersticken? Müssen erst Dutzende von ihnen von der Menge, die vorm Tränengas flüchtet, totgetrampelt werden? Muss das alles erst passieren, bevor wir begreifen, dass die Flüchtlinge kein griechisches, deutsches oder schwedisches Problem sind, sondern ein europäisches, sogar weltweites Problem?
Europa hat einmal recht tatenlos zugesehen, wie Menschen in Srebenica starben. Es hat daraus seine Lehre gezogen und danach sogar einen Krieg geführt, um zu verhindern, dass Gleiches noch einmal im Kosovo passiert. Und nun, 17 Jahre später, will es wieder tatenlos zuschauen? Das wäre absurd.
Andreas Theyssen, Autor in Berlin, hat 1999 in Mazedonien beobachtet, wie sehr sich Europa für Flüchtlinge aus dem Kosovo eingesetzt hat – humanitär, finanziell und militärisch.
vortex am 1. März 2016
https://www.google.de/search?q=open+or+die&rlz=1C1VFKB_deDE643DE643&espv=2&biw=1366&bih=623&source=lnms&tbm=isch&sa=X&ved=0ahUKEwiwmsCjvJ_LAhWIFZoKHZeUAJ4Q_AUIBygC
Machen sie ihren Selbstmord bitte nicht zu einem verpflichtenden Ereignis für all die übrigen.
Lotosritter am 1. März 2016
Ja, es waren Menschen, die in Srebrenica ermordet wurden. Aber warum haben Sie nicht den Mut, zu schreiben, dass die 8000 Ermordeten ausschließlich Männer waren? Warum verstecken Sie die ermordeten Männer in dem Gattungsbegriff Mensch?
Andreas Theyssen am 1. März 2016
Verstehe Ihre Frage nicht, Lotosritter. Sind Männer keine Menschen? Oder halten Sie Männer für bessere Menschen?
Hans am 2. März 2016
Sehr geehrter Herr Andreas Theyssen,
Warum schicken die Fluechtenden Frauen und Kinder vor an die Grenze und lassen nicht erst die Maenner den Zaun einreissen? Wieso setzen sie Kinder einem solchem Risiko aus?
Warum reissen die Fluechtenden die Zaeune ueberhaupt ein? Das ist kein demokratisches Verhalten.
Ich bin absolut dafuer Fluechtlinge aufzunehmen, aber bitte:
- Frauen und Kinder zuerst - Maenner koennen sich immer irgendwie durchschlagen
- Direkt aus den Krisengebieten holen
Warum baut Angela Merkel keine Luftbrucke in die Krisengebiete?
Die derzeitige Politik hilft:
- den Reichsten (die Schlepper bezahlen koennen)
- den Staerksten (die sich irgendwie durchschlagen)
Das ist inhuman gegenueber denjenigen die wirklich Hilfe benoetigen.
Liebe Gruesse,
Hans
Andreas Theyssen am 2. März 2016
Sehr geehrter Herr Hans,
weshalb Frauen und Kinder so weit vorne am Grenzzaun stehen, ist sehr einfach zu erklären. Die Begründung finden Sie in dieser Reportage aus Idomeni: http://www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtlinge-in-mazedonien-jeder-muss-schauen-wo-er-bleibt-a-1080121.html . Da auf der griechischen Seite der Grenze offenbar keinerlei Organisation stattfindet, stürmen alle nach vorne, sobald aus irgendwelchen Gründen Bewegung in die Menge kommt oder ein Gerücht auftaucht. Hinzu kommt, dass derzeit - wie wiederholt zu lesen war - vornehmlich Frauen und Kinder auf dem Weg nach Europa sind.
Dass es keine sonderlich gute Idee ist, Zäune einzureißen, da sind wir d'accord. Ich vermute mal, dass es zum Teil auch mit Verzweiflung zu tun hat.
Stichwort Luftbrücke: Dass es keine sonderlich gute Idee ist, Zivilflugzeuge in Kriegsgebiete zu schicken, hat der Fall MH 17 in der Ostukraine gezeigt. Hinzu kommt, dass etwa im Raum Aleppo die Flugplätze zerstört sind. Ansonsten fordert Merkel seit einem halben Jahr, den Nachbarländern Syriens, vor allem der Türkei, direkt Flüchtlinge abzunehmen. Mit dieser Idee steht sie allerdings in der EU weitgehend alleine.
Viele Grüße
Andreas Theyssen
Arne Hoffmann am 2. März 2016
Worauf der Leser "Lotosritter" aufmerksam macht, ist folgendes: Wenn immer von irgendwelchen Greueln ausschließlich Frauen betroffen sind, berichten Journalisten darüber in der Form von "soundsoviel Frauen Opfer von X". Sind ausschließlich Männer betroffen, wird ihre Geschlechtszugehörigkeit in der Berichterstattung unsichtbar gemacht; sie werden zu "Menschen" (Jungen analog zu "Kindern"). Seit einigen Jahren weisen renommierte Menschenrechtler auf dieses Missverhältnis hin und legen dar, inwiefern diese Berichterstattung dazu beiträgt, dass a) geschlechtsbezogene Faktoren für Leiden unsichtbar bleiben, solange davon "nur" Männer betroffen sind und b) deshalb nur weiblichen Opfern entsprechend starke Hilfe erhalten.
Siehe dazu als Literatur etwa
- Carpenter, Charli: "Innocent Women and Children". Gender, Norms and the Protection of Civilians. Ashgate 2006
- Jones, Adam: Gender Inclusive. Essays on violence, men and feminist international relations. Routledge 2009
(Ich fasse diese Debatte auch in meinem eigenen Buch "Plädoyer für eine linke Männerpolitik" zusammen.) ---
Vince Vega am 9. März 2016
Herr Theyssen,
die Welt berichtet gestern, dass Gruppen, die die Grenze nach Mazedonien überqueren dürfen eine Nummer erhalten, die die Reihenfolge regelt. Es besteht also kein Grund Kinder am Grenzzaun in Gefahr zu bringen, es sei denn man hat keinen Anspruch auf Asyl und muss deshalb die Weiterreise mit Gewalt erzwingen. Seit wann die Regelung in Kraft ist kann ich nicht nachvollziehen, aber generell scheint mir die Presse eine Desinformationskampagne zu fahren, des guten Zweckes wegen. Stichwort: Refugees Welcome.
Beste Grüße
Andreas Theyssen am 9. März 2016
Da gibt es sehr unterschiedliche Berichte. Spiegel Online berichtet etwa heute: "Allerdings hat nach griechischen Angaben wohl seit Montag kein einziger Flüchtling die Grenze überquert." (http://www.spiegel.de/politik/ausland/fluechtlinge-in-idomeni-griechenland-erwaegt-evakuierung-a-1081306.html) In der Tat ist die Lage an der mazedonischen Grenze sehr unübersichtlich, sie ändert sich teilweise auch stündlich, da Mazedonien seine Kontrollen immer wieder der Lage an den Grenzen weiter nördlich anpasst.
Grundsätzlich finde ich, dass man Kinder generell nicht in Gefahr bringen sollte (wobei die Frage ist, was gefährlicher ist: Tränengas in Idomeni oder Fassbomben in Aleppo?). Aber aus der verworrenen Lage in Idomeni den Schluss zu ziehen, "es besteht als kein Grund, Kinder am Grenzzaun in Gefahr zu bringen", halte ich für gewagt.
Da auch Sie glauben, "die Presse" fahre eine "Desinformationskampagne" in Sachen Flüchtlinge: Haben Sie sich einmal Gedanken gemacht, wie so etwas funktionieren soll? Die Kanzlerin lädt alle Chefredakteure ein, gibt einen Ukas aus, und die führen dann aus, was Frau Merkel gesagt hat? Glauben Sie wirklich, das würde funktionieren bei so unterschiedlich gepolten Medien wie etwa "Welt", "taz", "Süddeutscher Zeitung" oder "Junger Freiheit"? Ich kann Sie beruhigen: Es gibt keine Kampagne, und es hat auch nie einen konzertierten Versuch gegeben, eine Kampagne zu fahren.
Vince Vega am 9. März 2016
"Aber aus der verworrenen Lage in Idomeni den Schluss zu ziehen, „es besteht als kein Grund, Kinder am Grenzzaun in Gefahr zu bringen“, halte ich für gewagt."
Für mich liegt einfach die Vermutung nahe, dass Frauen und Kinder als moralische Erpressung benutzt werden um eine Weiterreise selbst als Afghane zu erzwingen, da auch den Menschen an der Grenze klar ist, dass junge Männer keine so eindrucksvollen Bilder abgeben.
"Haben Sie sich einmal Gedanken gemacht, wie so etwas funktionieren soll? Die Kanzlerin lädt alle Chefredakteure ein, gibt einen Ukas aus, und die führen dann aus, was Frau Merkel gesagt hat?"
Sie legen mir etwas in den Mund zu legen, was ich nicht gesagt habe. Die Kanzlerin muss nicht durchgeben was berichtet werden darf, dass legt jeder Journalist ganz von alleine fest und die meisten sind links und sehen sich als Weltverbesserer nicht als Berichter von Fakten. Wurden uns vor sechs Monaten nicht zuerst Ärzte aus Aleppo versprochen und später kam raus, dass höchstens 10% einen Studienabschluss hatte? Man hätte nur einen Bericht aus 2005 googeln müssen um das zu erfahren. Welche Zeitung hat denn mal klar analysiert wie viele Menschen einen Asylanspruch haben (vermutlich keiner, siehe §16a (2))? Welchen Schutz bietet die Genfer Flüchtlingskonvention und warum sollte man Menschen integrieren die nach drei Jahren das Land mglw. wieder verlassen müssen? Warum ist jeder 16-jährige deutsche Hauptschüler ein verlorener Fall, aber der 26-jährige Analphabet, der noch nicht mal seine eigene Sprache schreiben/lesen kann und vom IQ womöglich deutlich niedriger anzusiedeln ist (https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/5e/National_IQ_per_country_-_estimates_by_Lynn_and_Vanhanen_2006.png) Deutschlands Zukunft? Wann erfährt die deutsche Öffentlichkeit, dass 13% der syrischen Flüchtlinge eine positive/teilweise positive Einstellung ggü. ISIS haben (http://english.dohainstitute.org/file/Get/40ebdf12-8960-4d18-8088-7c8a077e522e)?
Verstehen Sie mich nicht falsch, man kann dafür sein alle Gesetze zu missachten und Flüchtlinge unkontrolliert aufnehmen zu wollen, aus einem humanistischen Gedanken heraus, bin ich bereit zu diskutieren, aber die Presse sollte erst die Fakten umfassend nennen und dann die eigene Meinung darstellen?
Seit Tagen nervt u. a. Heiko Maas, aber auch die Kanzlerin, mit moralischen Apellen an die Visegrad-Staaten die Grenzen offen zu halten, warum fragt ihn denn kein Journalist daraufhin, warum die deutsche Regierung nicht Züge direkt nach Idomeni oder besser Schiffe nach Izmir schickt um die Menschen direkt abzuholen, die wollen doch sowieso alle nach Deutschland? Warum lässt man denen diese billige, konsequenzlose Profilierung durchgehen?
Ich könnte jetzt noch ewig so weitermachen und von manipulativen Dokumentationen (Stichwort: Hintergrundmusik, Darstellung der unterschiedlichen Personen; Bsp. "Der große Bluff - Die falschen Versprechen der Atompolitik") will ich gar nicht anfangen.
Konzertiert muss das alles nicht sein, eine durch alle Zeitungen gehende Einstellung bei der illegale Einreisende, als Flüchtlinge bezeichnet werden reicht.
Andreas Theyssen am 11. März 2016
Vermuten kann man natürlich viel. Da ich leider nicht selber in Idomeni war, muss ich auf Leute vertrauen, die dort waren oder sind. In der Reportage, die ich oben gepostet habe, steht etwas anderes als Sie vermuten.
Es freut mich, dass Sie kein Anhänger der Mär sind, die Kanzlerin würde die Medien zu irgendetwas vergattern oder gar sie gleichschalten. In der Tat hat es vor einigen Jahren einmal eine Umfrage gegeben, die ergab, dass eine sehr hohe Zahl der deutschen Journalisten rot-grün-nah ist. Nur: Seitdem hat sich die deutsche Medienlandschaft sehr verändert. Sowohl das Personal hat sich verändert, Zeitungen wurde eingestellt, neue, vor allem digitale Titel sind dazugekommen. Es würde mich in der Tat interessieren, wie heute solch eine Umfrage ausfallen würde.
Es bleibt allerdings ein Punkt, wo Ihre These ein wenig hakt: Wenn die meisten Journalisten links sind, wie kann es dann sein, dass die Flüchtlingspolitik einer konservativen Kanzlerin in vielen Medien im Grundsatz gut geheißen wird.
Ehrlich gesagt: Die Punkte, die Ihrer Meinung nach von den Medien verschwiegen oder unterdrückt wurden - im vergangenen halben Jahr konnte man darüber ständig lesen, zum Beispiel in der "Süddeutschen Zeitung".
Und schließlich: Sie fragen, weshalb Deutschland nicht direkt Flüchtlinge in der Türkei abholt. Aber das ist doch genau das, was Merkel seit einem halben Jahr fordert und was gerade im EU-Türkei-Abkommen ausgehandelt wird.