Zuchtmeister gegen Anti-Europa-Populisten

Von Andrea Affaticati am 16. November 2016

Deutsche und italienische Medien schüren bedenkenlos die Vorurteile gegen Italiener und Deutsche. Ein gefährliches Spiel in Zeiten, in denen eine europäische Krise der nächsten folgt.

Was sich liebt, das neckt sich. Stimmt das so? Nehmen wir die Medien in Italien und in Deutschland. Man schätze sich wegen des lockeren Lebensstils oder des strengen Ordnungssinns, ist dort immer wieder zu lesen. Tugenden, die mit der Zeit zu abgedroschenen Stereotypen wurden. Noch immer greift der Italien-Korrespondent genüsslich nach Begriffen wie „Belpaese“ oder „Dolcevita“. Für den Deutschland-Korrespondenten wiederum sind Begriffe wie „teutonici“, „rigore prussiano“ und „Ordnung muss sein“ aus dem Korrespondenten-Wortschatz nicht mehr wegzudenken.

Hat man sich bis vor kurzem, manchmal auch nur aus Mangel an Phantasie und Kreativität, dieser Stereotypen auf eher humorvolle, neckische Weise bedient, sind die Absichten in letzter Zeit eher spöttisch, wenn nicht sogar aggressiv. Die Italiener haben die teutonische Strenge satt, die Deutschen die italienische Unzuverlässigkeit.

Wie diese Entfremdung aussieht, kann man an diesen beiden Beiträgen sehen:

Sonntag, 30. Oktober, 7.45 Uhr, in Radio Rai1 läuft das Wochenmagazin „Manuale d’Europa“. Am Mikrofon Tiziana Di Simone, die das nächste Thema einleitet: „Jetzt geht es nach Deutschland, ein reiches Land und Wortführer der europäischen Zuchtmeister“. Im Fokus steht der Gesetzentwurf von Andrea Nahles, Arbeitsministerin und „ehemalige Gewerkschafterin“. Dem Zuhörer wird erklärt, der Gesetzentwurf sehe vor, Sozialleistungen für Ausländer striktere Bedingungen zu unterwerfen. Wobei mit Ausländern auch EU-Bürger gemeint seien. Von nun an müsse ein Ausländer seit fünf Jahren in Deutschland angemeldet sein, um ein Recht auf Sozialhilfe zu haben. Heute genügen drei Monate. Mit dieser gesetzlichen Vorkehrung „wollen die Deutschen dem Sozialtourismus  Schranken setzen“, erklärt Di Simone, „obwohl dieses Gesetzt eigentlich dem Prinzip des freien Personenverkehrs, wie im Maastricht-Vertrag vorgesehen, widerspricht“. Damit aber noch nicht genug teutonische Strenge. Denn, so Di Simone: „Ein arbeitsloser Ingenieur, der Sozialhilfe empfängt, muss jede Arbeit annehmen, auch wenn sie unter seiner Qualifikation ist, und vorweisen können, dass er sich pro Monat bei mindestens acht Arbeitgebern beworben hat. Ansonsten wird ihm die Sozialhilfe gestrichen“. Das Beispiel war auf einen italienischen Ingenieur bezogen.

Der „Zeit“-Journalist Ulrich Ladurner schrieb am 31. Oktober, also einen Tag, nachdem die Erde in Zentralitalien wieder mächtig gebebt hatte, in seinem Blog: „Kurz nach dem Beben vom Sonntag trat Renzi vor die Presse. Im Hintergrund standen in geschlossener Reihe italienische Fahnen. Die Europafahne, die traditionell neben der italienischen aufgepflanzt wird, suchte man vergeblich. Renzi sagte: ‚Wir werden alles wieder aufbauen. Wir werden nicht nachgeben. Wir werden uns nehmen, was wir brauchen. Wir haben keinerlei Respekt vor technokratischen Regeln. Sie würden die Identität des Landes und des Territoriums verleugnen.’ Das war deutlich: Die EU-Kommission und ihre Haushaltsdisziplin, so waren seine Worte zu verstehen, können dem italienischen Premier gestohlen bleiben. Hier brachte einer die Nation gegen Brüssel in Stellung.“

Renzi versucht sich schon seit Längerem im Kräftemessen mit Brüssel. Es geht wieder einmal um den Staatshaushalt. Eigentlich hatte man sich mit Brüssel schon auf ein Defizit von 1,8 Prozent verständigt. Doch neben dem andauernden Flüchtlingsstrom erschütterten auch zwei Erdbeben Zentralitalien, das erste Ende August, das zweite Ende Oktober. Renzi verlangte von Brüssel mehr Einsicht und bekam sie. Seine Argumente waren schwer zu widerlegen, notiert Ladurner und fügt nichtsdestotrotz hinzu: “Das Einlenken der Kommission war kulant. Denn die italienische Regierung hatte sich im Frühjahr schriftlich darauf verpflichtet, die 1,8 Prozent einzuhalten”. Außerdem habe Renzis „antieuropäischer Populismus“ mittlerweile Unterstützung bekommen. Und zwar von Beppe Grillo, dem Gründer der Fünf-Sterne-Bewegung. „Das ist neu. Bisher hat Grillo Renzi erbittert bekämpft. Aber wenn es gegen Europa geht, finden die beiden offenbar zueinander. Im Populismus sind sie vereint”, kommentiert Ladurner.

Für Moderatorin Di Simone sind die Deutschen also die führenden Zuchtmeister in Europa. Aber hält man sich streng an das in der Radiosendung vorgestellte Thema – was ist eigentlich falsch daran, den Sozialtourismus zu stoppen? Oder eine Arbeit, sei es auch nur zur Überbrückung, anzunehmen, die nicht der eigenen Qualifikation entspricht? Di Simone scheint dabei zu vergessen, dass von den 107.000 Italienern, die 2015 ausgewandert sind – der Großteil zwischen 18 und 35 Jahren alt – sich 16.568 in Deutschland niedergelassen haben. Und: Italiens Sozialsystem kennt so etwas wie Hartz IV nicht.

Ladurner seinerseits, bezichtigt Renzi des Populismus, zumindest im europäischen Bereich. Renzis Art, sich in Brüssel Gehör zu verschaffen, ist in der Tat oft irritierend, manchmal sogar peinlich. Das soll man durchaus ansprechen, aber bitte nicht mit dem nicht zu überhörenden Unterton: „Na, die Italiener versuchen’s wieder auf die schlaue Art“. Italien mag es mit Ernst und Präzision nicht immer so genau nehmen. Doch in EU-Angelegenheiten hat sich das Land immer als loyaler Partner bewiesen. Und wenn es zu Notlagen kommt, wie im Fall der Flüchtlinge, hat Italien sehr wohl Verantwortung übernommen. Hinzu kommt, dass das Land im Moment mit Problemen kämpft, die auch für Deutschlands Finanzen und Institutionen eine Herausforderung wären. In den ersten zehn Monaten dieses Jahres sind insgesamt 158.974 Flüchtlinge über das Meer nach Italien gekommen, das ist ein Plus von 13 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Allein im Oktober zählte man 27.272 Flüchtlinge, und das entspricht nicht nur einem Plus von 200 Prozent im Vergleich zum Oktober 2015, sondern auch einem für die Jahreszeit ungewöhnlichen Anstieg. Hinzu kommen die Versorgung von 30.000 Menschen, die infolge zweier Erdbeben ihr ganzes Hab und Gut verloren haben, und natürlich der Wiederaufbau.

Vor einigen Jahren hatte das Goethe-Institut in Rom eine sehr lobenswerte Initiative ins Leben gerufen. „Va bene?!“ hieß das Projekt mit dem Ziel, Vorurteile abzubauen. Teil dieses Projekts war auch der Journalistenaustausch. Die involvierten Journalisten zeigten sich begeistert und kamen nach einem dreiwöchigem Aufenthalt „geläutert“ zurück. Doch an der tagtäglichen Berichterstattung änderte sich nichts.

Die beiden Beispiele gehören noch zu den harmloseren. Doch gerade in Zeiten wie die jetzigen, wo sich eine Krise auf die andere häuft – geringes Wachstum Arbeitslosigkeit, Flüchtlinge, Brexit usw. – wäre es ratsam, mit Begriffen nicht unbekümmert herumzuschießen und auf der Tastatur der Vorurteile nicht leichtfertig herumzuklimpern.

Andrea Affaticati, Autorin in Mailand, schreibt sowohl für deutschsprachige als auch italienische Medien.

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