Merkel tritt wieder an. Gut so.
Die Kanzlerin ist in einer sich rapide verändernden Welt die letzte Konstante eines freien und friedlichen Europa. Noch wird sie gebraucht.
Es gibt viele Gründe zu sagen, dass Angela Merkel endlich mal etwas anderes machen sollte. Rentnerin in der Uckermark werden. UN-Generalsekretärin. Vorsitzende der Konrad-Adenauer-Stiftung. What ever. Hauptsache, nicht Kanzlerin.
Schließlich ist sie im zwölften Jahr im Amt. Schließlich ist uns schon Helmut Kohl spätestens in seiner vierten Amtsperiode gehörig auf den Geist gegangen. Schließlich war sie Zeit ihrer Kanzlerschaft nie eine große Reformerin. Schließlich verwaltet sie lieber als dass sie gestaltet. Genügend Gründe um zu sagen: Es reicht, Frau Merkel.
Und dennoch: Es gibt auch Gründe zu sagen – gut, dass sie weitermachen will. Und zwar entscheidende.
Die Welt hat sich verändert, seit Angela Merkel 2005 zum ersten Mal Kanzlerin wurde. Gefragt sind nicht mehr ausgleichende, vermittelnde, versöhnende Eigenschaften, mit denen etwa Merkel Politik gestaltet. Gefragt sind heute Ausgrenzung, Egoismus, Abschottung, simple Antworten auf komplexe Fragen. Das belegen die Erfolge von Wladimir Putin, von Recep Tayyip Erdogan, von Donald Trump und – falls der Trend weiter anhält – demnächst von Marine Le Pen in Frankreich.
Sie alle sind demokratisch gewählt worden. Doch das, wofür sie stehen, hat wenig mit Demokratie zu tun. Eher mit dem Gegenteil. Sie haben keinerlei Bedenken, ihre Interessen mit dem Recht des Stärkeren zu vertreten und ihre Truppen loszuschicken – siehe Putin, siehe Erdogan. Sie haben keine Bedenken, brachial gegen Menschen mit anderen Ansichten vorzugehen – siehe Putin, siehe Erdogan. Sie haben nicht die geringste Scheu, Menschen auszugrenzen, bloß weil sie anders sind – siehe Putin, Erdogan, Trump, Le Pen. Dieser Politikertypus verkörpert und praktiziert Eigenschaften, die im vergangenen Jahrhundert zweimal zu einem Weltkrieg geführt haben.
Merkel ist anders. Sie hat deutlich gemacht, dass sie für andere Werte steht. Gegenüber Putin mit seinen Ukraine-Abenteuern. Spät, aber immerhin, gegenüber Erdogan und seiner Unterdrückung der Opposition. Gegenüber Trump, als sie deutlich sagte, unter welchen Bedingungen sie mit ihm zusammenarbeiten will.
Barack Obama hat bei seiner letzten Berlin-Visite Angela Merkel das Etikett „Führerin der freien Welt“ verpasst. Da ist etwas dran. Wer das Europa der vergangenen 25 Jahre schätzen gelernt hat, den Frieden, den relativen Wohlstand auf dem Kontinent, das Laisser-faire in Bezug auf anders Denkende, das Prinzip, dass jeder nach seiner Facon glücklich werden kann – der findet im Moment nicht allzu viele relevante Politiker, die das vertreten. Außer der erfahrenen Frau im Kanzleramt des wichtigsten Staates in Europa.
Andreas Theyssen, Autor in Berlin, verfolgt Angela Merkels Werdegang seit 1990.