Die Lehren aus dem Anschlag von Berlin

Von Volker Warkentin am 20. Dezember 2016

Der islamistische Terrorismus ist in Deutschland angekommen. Jetzt muss sich zeigen, ob der gesellschaftliche Zusammenhalt ausreicht, um unsere Werte zu verteidigen.

Dass Deutschland nicht die Insel der Seligen ist und Ziel islamistischer Attentäter werden würde, war so sicher wie das Amen in der Kirche. Nur Ort und Zeitpunkt eines Anschlages lagen im Dunkeln. Um so schwerer traf der Lkw-Anschlag auf dem belebten Weihnachtsmarkt an der Berliner Gedächtniskirche das Land in seiner vorfestlichen Stimmung. Zwölf von einem schweren Lastwagen tot gefahrene Menschen, dazu an die 50 zum Teil Schwerverletzte sind schon an normalen Tagen nur schwer zu verkraften. Um so schmerzhafter ist ein Anschlag, wenn er vier Tage vor dem Heiligen Abend verübt wird.

Bislang hat Deutschland Glück gehabt. Dank Hinweisen ausländischer Geheimdienste und der eigenen Tüchtigkeit konnte die Polizei mehrere vom Islamisten geplante Anschläge noch in der Anfangsphase aufdecken und Verdächtige dingfest machen. Jetzt gilt es, die Sicherheitskräfte ihre Arbeit machen zu lassen, damit die Täter vor Gericht gestellt werden und ihre Strafe erhalten. Dass den Ermittlern mit einem jungen Pakistani möglicherweise der falsche Mann ins Netz gegangen ist, gehört zum Polizeialltag und sollte von Schuldzuweisungen abhalten.

Dass die Rechtaußen von der AfD den Anschlag für ihre Rundumschläge gegen Merkels Flüchtlingspolitik missbrauchen würden, war klar. Solche Leute richten sich selbst, und die Zivilgesellschaft sollte die Schreihälse von der AfD da lassen, wo sie hingehören: Rechtsaußen und im Abseits.

Noch ist Vorsicht angebracht, weil der wirkliche Attentäter von Berlin wohl noch frei und bewaffnet herumläuft. Dennoch sollten wir möglichst rasch zur Normalität zurückkehren. Denn eine verängstigte Gesellschaft ist das Ziel der fanatisierten Attentäter und macht sich um so mehr zum Ziel weiterer Anschläge.

Volker Warkentin ist Journalist und Autor in Berlin. Seine OC-Kolumne „Warkentins Wut“ erscheint wieder am 6. Januar 2017.

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Zaunkoenigin am 2. Januar 2017

habe ich das richtig gelesen?

*Bislang hat Deutschland Glück gehabt*

Was ist mit Würzburg, München, Ansbach, Gelsenkirchen (Reutlingen soll wohl doch kein IS-Attentat gewesen sein) ? War das Glück?

.... und den vielen - gerade noch verhinderten oder schief gegangenen Anschläge? http://www.berliner-zeitung.de/berlin/chronologie-islamistische-anschlaege-in-deutschland-25348608

Sie werden "Anschlag" doch nicht an der Anzahl der Getöteten fest machen wollen?

Zaunkoenigin am 2. Januar 2017

Noch ein Nachtrag zu:
"Noch ist Vorsicht angebracht, weil der wirkliche Attentäter von Berlin wohl noch frei und bewaffnet herumläuft. Dennoch sollten wir möglichst rasch zur Normalität zurückkehren. Denn eine verängstigte Gesellschaft ist das Ziel der fanatisierten Attentäter und macht sich um so mehr zum Ziel weiterer Anschläge."

Das liest sich, als ob Sie die Meinung vertreten, dass nach der Festnahme "alles wieder gut ist". Wirklich... mich macht das sprachlos. Normal wären für mich Konzertbesuche ohne Bedenken. Oder die Fahrt mit der S-Bahn ohne der vorsichtige Blick nach Links und Rechts. Glauben Sie ernsthaft, dass der denkende Mensch das in den nächsten Jahren das je können wird?

Meine Meinung.. ein besseres Ziel als unbesorgte Besuche von Massenveranstaltungen kann man den Attentäter nicht bieten.

Aber klar.. lassen wir uns "frei" abschlachten. Das war dann auch ein Lebensgefühl *Ironieoff*

TGR am 2. Januar 2017

@zaunkoenigin
Natürlich wirkt es zynisch, im Angesicht von 12 Toten und über 50 Verletzten, dem zweitgrößten Terroranschlag auf deutschem Boden (wenn man von den Opferzahlen ausgeht), davon zu sprechen, Ruhe zu bewahren und "stiff upper lip" weiterzumachen. Andererseits - wie sieht denn die Alternative aus?

Mehrere Punkte im Zusammenhang mit diesem Terroranschlag machen mich nachdenklich
(1) Amris war den Sicherheitsbehörden kein Unbekannter, er war als Gefährder registriert. Bisher konnten - wie Sie ja schreiben - etliche Attentatsversuche von dieser Seite verhindert werden, wieso in diesem Fall nicht? Vor einigen Wochen gab es Durchsuchungen und Verbote gegen eine große Salafisten-Vereinigung in Deutschland, hätte man nicht gewarnt sein können? Hinterher ist man sicher immer schlauer, nichtsdestotrotz gehe ich davon aus, dass es intern bei BKA und den Sicherheitsbehörden eine intensive Nachbetrachtung geben sollte (und hoffentlich auch wird).
(2) Während sich unsere Gesellschaft stark auf den islamistischen Terror fokussiert, scheint der links- und rechts-extreme Terror inzwischen als Grundtenor einfach so mitzuschwingen. Viele haben den linken Terror der 70er Jahre (RAF) und den rechten Terror der 80er und 90er Jahre (Oktoberfestattentat, Mölln, Solingen) miterlebt, aber in der öffentlichen Debatte um Terror sind diese Erfahrungen kaum existent, stattdessen werden terroristische Straftaten von einfacher Sachbeschädigung über Brandstiftung bis hin zu Mordversuchen (Köln) oder Mordserien (NSU) kaum rezipiert, wenn über das Phänomen Terror gesprochen wird. Fast hat man sogar den Eindruck, jede "Seite" versucht Terroranschläge der "Gegenseite" zu überhöhen und die der "eigenen Seite" herunterzuspielen. Ein holistischer Ansatz ist aus meiner Sicht die einzige Möglichkeit, wie wir uns dem Phänomen Terror deutlicher nähern können und (noch wichtiger) Terror bekämpfen können.
(3) Weit weniger abstrakt, aber auch weniger gefühlsbetont: Sie sagen, dass "ein denkender Mensch de facto in den nächsten Jahren kein Konzert mehr ohne Bedenken besuchen kann, keine S-Bahn ohne vorsichtige Blicke betreten kann". Aber rein rational: Verabschieden Sie sich vor jeder Autofahrt von Ihren Lieben? Das Risiko, bei einem Autounfall ums Leben zu kommen, ist absolut gesehen immer noch viel höher, als bei einem Terroranschlag. Oder betrachten Sie Ihren Partner jedesmal mißtrauisch, wenn er ins Zimmer kommt, und bestehen Sie auf getrennten, abschließbaren Schlafzimmern? Das Risiko, von seinem Partner getötet zu werden, ist (zumindest für Frauen) um ein Vielfaches höher als von einem Islamisten. Nur werden diese Fälle nicht groß als erste Meldung in der Tagesschau gebracht, sondern meist nur als Randnotiz in einer Regionalzeitung ("Bei einem Unfall sind gestern nacht auf der Autobahn A8 6 Menschen getötet worden..." weckt auch viel weniger Empathie als große Bilder auf einer großen deutschen Tageszeitung).

Damit wir uns nicht falsch verstehen: mein Mitgefühl ist bei den Opfern. Und ich möchte weder mich, noch meine Lieben, noch sonst jemanden in diesem Land, auf diesem Kontinent und auf dieser Erde "frei abschlachten" lassen. Aber hektische politische Entscheidungen, aus dem Bauch heraus, könnten die Problemlage noch verschlimmern. Und das kann nun auch niemand wollen.

P.S. Bei Ihrer Aufzählung von Terroranschlägen hat sich ein Ereignis gemischt, dass aus meiner Sicht mehr Ähnlichkeiten zu einem Amoklauf aufweist - München würde ich eher in einem Atemzug mit Erfurt und Winnenden nennen.

Zaunkoenigin am 3. Januar 2017

@TGR .. zynisch finde ich speziell Ihre Versuche zu relativieren und das Gegenüberstellen von "natürlichen" Gefahren und Terror. Aber wenn wir schon dabei sind - ich setze mich auch nicht in jedes Flugzeug. D.h. auch bei den Alltagsgefahren versuche ich zu vermeiden wo ich etwas vermeiden kann. Abgesehen davon, dass die Gefahr von Islamisten getötet zu werden in den nächsten Jahren noch steigen wird und die Attentäter "kreativer" werden.

Hektische Entscheidungen von Seiten der Politiker wären auch gar nicht erforderlich gewesen, wenn man bereit gewesen wäre ein Mindestmass an Kontrolle schon zu Beginn einzusetzen. Und, wenn das nicht möglich war, weil die entsprechenden Zuständigen damit überfordert waren (wovon ich ausgehe), dann zumindest zugeben und nicht, wie zu Beginn üblich, von allen Seiten (inkl. der Presse) klein zu reden. Sensibilisierung und nicht Ignoranz (und Augen verschließen). Können Sie mir z.B. verraten, warum sich Menschen, von denen man sicher weiß, dass sie mehrere Identitäten nutzen, noch frei bewegen dürfen. Da fängt es doch schon an.

Aber um auf Ihre Frage bezüglich " Verabschieden Sie sich vor jeder Autofahrt von Ihren Lieben?" einzugehen. Nicht vor jeder, aber vor jeder längeren. Und bei uns ist es auch noch üblich, dass man die "gute Ankunft" vermeldet. Aber ich gebe zu, mit 20/30 sah ich das auch noch entspannter.

Ob München dazu gehört? Mh.. die Einen sagen so, die anderen So. Letztendlich kommt es darauf auch nicht an. Die Anschläge - auch die gescheiterten und verhinderten, machen doch auch so deutlich, wohin sich das Ganze entwickeln wird.

TGR am 3. Januar 2017

@zaunkoenigin
Es ist nicht meine Absicht, zu relativieren, sondern in Relation zu setzen. Ich weiß, dass das zynisch erscheinen mag (Henryk Broder hat auf der Achse des Guten ebenfalls einen Risikoforscher scharf angegriffen, der ebenfalls auf das scharfe Ungleichgewicht zwischen dem Tod durch Unfälle wie einer Pilzvergiftung oder durch einen Terroranschlag hingewiesen hat) - deswegen habe ich auch keineswegs natürliche Todesursachen (wie Herzkreislaufversagen) gewählt, sondern gewaltsame Todesursachen.

Unter den Fällen von Tötungen, die (meist nur in der Lokalpresse) dieses Jahr auch noch vermeldet wurden, haben mich zwei in ihrer "Sinnlosigkeit" ähnlich schockiert wie der Berliner Terroranschlag: (a) ein Mann feuert in der Silvesternacht 2015 aus Frust über den Lärm mit einer Handfeuerwaffe in eine Menschenmenge und tötet ein 11jähriges Mädchen; (b) ein leicht alkoholisierter Mann fährt mit voller Absicht ein Pärchen an, dass sich auf einem Zebrastreifen küsst, und tötet die Frau dabei. Quantitativ nicht mit dem Berliner Anschlag zu vergleichen, aber qualitativ? Waren das unvermeidbare Tote, natürliche Gefahren/Todesursachen, die Unwägbarkeiten des Lebens? Trotzdem werden diese Toten scheinbar achselzuckend hingenommen, war es ein "bekloppter" Einzeltäter, würde jeder, der nach irgendeiner Art von Konsequenzen ruft (schärfere Waffengesetze, psychiatrische Begutachtung vor Erteilung einer Fahrerlaubnis, etc.), bestenfalls ignoriert werden.

Übrigens "hätte man...": die Forderung nach strengeren, besseren, irgendwie schärferen Kontrollen kursiert nun schon seit mehr als einem Jahr, aber keiner kann sagen, wie sie aussehen sollen. Bei einer Reise in die USA müssen sie einen kurzen Fragebogen der Homeland Security ausfüllen, bei dem in einem Item gefragt sinngemäß gefragt wird, ob man plant, einen terroristischen Anschlag in den USA durchzuführen. Raten Sie mal, was ich - wie schätzungsweise jeder im Flugzeug - angekreuzt haben? Die Forderung nach mehr und besseren Kontrollen krankt immer noch an der Konzeptlosigkeit der Fordernden. Ähnlich die Problematik der Abschiebung - soweit ich weiß, weigert sich z.B. Tunesien gerne, die unter der Ben-Ali-Diktatur herangezüchteten radikalen Islamisten, die nach Europa weitergereist sind, "zurückzunehmen". Und jetzt?

Ich sehe auch nicht, wie "Hätte-man-Kontrollen" die Lücken in den Abläufen der Sicherheitsbehörden hätte beheben können - wie schon gesagt, hier ist sicher einiges aufzuarbeiten. Das macht die Berliner Opfer nicht wieder lebendig, hilft aber sicher besser, zukünftige Attentate zu verhindern, als der diffuse Wunsch nach Kontrollen (die durchaus auch beliebig ausgeweitet werden könnten, z.B. auf die sozialen Medien...).

Zudem - wie gesagt erstaunt es mich, dass der linke und rechte Terror scheinbar als unabänderbar hingenommen wird, obwohl regelmäßig halbe Stadtviertel demoliert, Waffenlager gefunden oder terroristische Vereinigungen ausgehoben werden (Gruppe Freital oder OldSchoolSociety), und obwohl in der Vergangenheit schon ähnliche Anschläge aus diesen Richtungen verübt wurden. Meine Meinung bleibt, dass das Phänomen Terror nur holistisch begriffen, und Konzepte dagegen entwickelt werden kann.