Amerika braucht einen neuen Martin Luther King
In den USA gingen am Tag nach Donald Trumps Inauguration Hunderttausende auf die Straße. Es formiert sich eine Protestbewegung, aber um etwas auszurichten, braucht sie so schnell wie möglich eine charismatische Führungsfigur.
Wer gehofft hatte, der Präsident Donald Trump werde ein anderer sein als der Wahlkämpfer Trump und sich mäßigen, der wurde schon bei der Amtseinführung ernüchtert: kein versöhnliches Wort an seine Gegenkandidatin Hillary Clinton und deren Demokratische Partei, keine Hand ausgestreckt in Richtung Europa oder China. Nur „America first!“
Wer dann noch das hohe Lied des Protektionismus anstimmt und den Freihandel – der dem Raubtier-Kapitalismus des 19. Jahrhunderts gleicht und alles andere als der Weisheit letzter Schluss ist – verdammt, der nimmt Handelskriege in Kauf. Richtige Kriege sind dann nicht weit. Mit den Medien ist der neue Präsident nach eigener Aussage ja bereits im Krieg. Wer so redet, der schießt auch.
Das beginnen die Amerikaner zu begreifen, und schon ist die Schockstarre wütendem Protest gewichen: Mut gemacht haben am Wochenende die Demonstrationen von Frauen gegen den Frauenfeind Trump. Allein in Washington sollen es eine Million Menschen gewesen sein, die sich der „Rebellion gegen die neue Tyrannei“ anschlossen, wie die Popsängerin Madonna die Demonstrierenden begrüßte, die den Women’s March zum Anlass genommen hatten, gegen Trump aufzubegehren. In New York, Boston, Los Angeles, aber auch in London, Paris, Genf, Nairobi und Berlin wehrten sich Menschen gegen Trumps beängstigende Selbstherrlichkeit und Unberechenbarkeit – und gegen seine Ignoranz sämtlicher Werte, auf denen moderne Demokratien fußen.
Der Protest erinnerte an den „Marsch auf Washington“, mit dem 1963 die Bürgerrechtsbewegung den langen Kampf um die Emanzipation der Schwarzen aufnahm. 2008 hätte sie mit dem Einzug Barack Obamas ins Weiße Haus ihren glorreichen Schlusspunkt finden können. Doch gerade die Ära des ersten schwarzen Präsidenten in den USA brachte für die Afroamerikaner viele Rückschläge. Besonders bitter waren die vielen Todesschüsse aus Polizeiwaffen auf Schwarze. Unter dem Rassisten Trump drohen nun weitere Rückschritte. Obamacare, die staatliche Krankenversicherung, von der vor allem arme Schwarze profitieren, versah Trump gleich am ersten Tag mit einem medienwirksamen „No“.
Noch gibt es keine Galionsfigur wie 1963 Martin Luther King, hinter der sich die erwachende Bürgerrechtsbewegung scharen kann. Noch weiß niemand, wer das sein könnte. Vielleicht Michelle Obama? Oder Bruce Springsteen, der sich mit seinen Liedern über den Verfall stolzer Industrieregionen zum Fürsprecher der Abgehängten gemacht hat – wenn auch in völlig anderem Duktus als Trump. Jedenfalls ist Eile geboten, damit die „Revolution der Liebe“ (Madonna) ihren Schwung nicht verliert.
Diese Führungspersönlichkeit müsste mit eingängigen Forderungen die kollektive Wut bündeln und eine neue Regenbogen-Allianz schmieden aus jungen Tüftlern der IT-Szene, der bürgerlichen Mittelschicht, Feministen, Stahlkochern und Biobauern, Automobilarbeitern, Fahrradfreaks und Intellektuellen, Schwulen, Lesben, Gewerkschaftern, Kirchenleuten bis hin zu Demokraten und sozial eingestellten Republikanern.
Vielleicht hilft eine neue Allianz auch dabei, das Schweigen der Schriftsteller zu beenden. Wo sind flammende Aufrufe und kämpferische Polemiken von Philip Roth, Richard Ford, Don DeLillo, Paul Auster oder Jonathan Franzen? Auch Bob Dylan, 2016 mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet, scheint zu Trump nichts einzufallen.
Wenigstens einen eingängigen Song könnte der doch komponieren. Oder „We shall overcome“ neu einspielen, jenes 1963 von Joan Baez interpretierte Lied, das zur Hymne der Bürgerrechts- und Studentenbewegung wurde.
P.S.: Bei seinem Antrittsbesuch in der CIA-Zentrale sagte Trump, Journalisten gehörten „zu den unehrlichsten Menschen auf der Welt“. Wenn jemand wie Trump, Herr der „alternativen Fakten“, einem Gegner diese Schelle umhängt, kommt das einer Auszeichnung gleich. Ich werde sie wie einen Orden tragen.
Volker Warkentin ist Journalist in Berlin. Seine Kolumne „Warkentins Wut“ erscheint immer dienstags.